Wie das erste Buch entstand

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Predigt am Sonntag Trinitatis, 4. Juni 2023
Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer

Jesaja 6,1-12
In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.

Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei.
Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!
Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.
Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt.

Liebe Gemeinde!
Wenn ich etwas über den Propheten Jesaja sagen will, dann muss ich früher anfangen. Und zwar bei dem Propheten Amos.
Es ist schon lange her, da gab es an den Höfen der Stadtkönige in Israel Propheten. Wenn der König einen Kriegszug unternehmen wollte und bei allen möglichen anderen Vorhaben, wurden die Propheten um ihre Beurteilung gebeten. Sie unterstützten den König und arbeiteten in seinem Interesse. Sie vermittelten göttliches Wissen an menschliche Empfänger. Propheten verstehen sich als Boten Gottes – und Boten der Könige oder andere Nachrichtenübermittler mussten zur damaligen Zeit, in der noch wenig geschrieben wurde, ihre Botschaft wortgetreu ausrichten. Davon hing sehr viel ab.
Amos war nun keiner, der am Hof für den König prophezeite. Im Gegenteil. Amos war ein Außenseiter, der nichts mit dem höfischen Betrieb, den Regierungsgeschäften und dem religiösen Kult zu tun hatte. Er kritisierte den Kultus und die höfischen Heilspropheten.
Amos war ein Kritiker der Gesellschaft damals. Er prangerte an, dass es immer mehr Arme gab und immer mehr Reiche und Mächtige. Amos kritisierte den Luxus am Königshof und in den besseren Kreisen und machte sich dadurch unbeliebt. Amos kritisierte, dass die Könige samt ihrer Heilspropheten sich mehr auf ihre Truppen und Waffen verließen, als auf Gott.
Und Amos sagte großes Unheil voraus für die nordisraelitischen Städte Samaria und Bethel mit seinem Heiligtum.
Und da passierte etwas, was aus dem Außenseiter Amos auf einmal eine ganz wichtige Person machte. Und zwar so wichtig, dass man zum ersten Mal das Bedürfnis hatte: „Das, was dieser Amos gesagt hat, das müssen wir für die Nachwelt aufheben. Das müssen wir aufschreiben!“ – Auf diese Idee wäre keiner gekommen in Bezug auf die Hofpropheten des Königs – von ihnen, liebe Gemeinde, gibt es keine Bücher, die auch noch bis heute gelesen werden.
Was war da passiert? – Das Unheil, das Amos im Namen Gottes angekündigt hatte, es trat tatsächlich ein. Das Nordreich wurde von den mächtigen Assyrern eingenommen. Im Bestreben, die Kultur ihrer eroberten Gebiete zu zerstören, führten die Assyrer einen Teil der Bevölkerung ins Exil. Sie gingen in dem großen Reich auf. Neusiedler kamen nach Israel und veränderten die Verhältnisse vor Ort. Die Welt hatte sich verändert.
Und Amos sah das alles im Licht von Gottes Willen.
Die Tatsache, dass die unbequeme Botschaft des Amos eingetreten war, war der Beginn des Schreibens und der Beginn der Bibel. Wohl gibt es Texte, die man für ältere Lieder oder überlieferte Sprüche hält. Aber hier, gegen Ende des 8. Jahrhunderts vor Christus, begann die Abfassung ganzer Schriften. Mit dem Fall Samarias unter dem Ansturm der Assyrer im Jahr 722.
Darauf blickte Jesaja zurück und konnte zu seiner Zeit im Südreich mit seinen Mahnreden an Jerusalem auf die Worte des Amos zurückgreifen, denn sie waren verschriftlich worden oder jedenfalls dabei, verschriftlicht zu werden. Denn hier nun, bei Jesaja, wiederholte sich dasselbe Szenario von Neuem: Diesmal bedrohte die assyrische Großmacht das andere Zentrum Israels: Juda mit Jerusalem.
Und Jesaja knüpfte an Amos an und sagte: das Gericht, das Gott über das Nordreich hatte hereinbrechen lassen, das ist nun, Jahre später, nicht abgeschlossen, es ist kein neuer Vorgang, sondern beruht noch immer auf demselben Zorn Gottes. Das Gericht an Juda und Jerusalem werde die Verlängerung und Weiterführung des Gerichts sein, das das Nordreich getroffen hatte.
Liebe Gemeinde,
wenn ein prophetisches Wort sich gegen das offizielle Priester- und Prophetentum wandte, dann musste es gewichtige Gründe geben, die den einsamen Kritiker legitimierten.
Der Prophet Amos hatte Visionen, wie Gott Heuschrecken und Feuer über das Land bringt. Er sah eine Gestalt mit einem Bleilot auf einer Mauer stehen und hörte Gott sagen, dass er das Land einebnen werde und das Schwert gegen den König senden.
Worte mit Sprengkraft weisen sich durch Eingebungen, Visionen, Höreindrücke, aus. Was Amos von Gott her empfing, das gab er weiter.
Auch Jesaja hatte große Visionen – z.B. die von Gottes Thronsaal. Es ist seine Berufungsvision. Die Serafim-Flügelwesen um Gottes Thron bereiten Jesaja darauf vor, die Botschaft Gottes zu empfangen. Nachdem Jesaja sich bereit erklärt hat, Bote und Prophet zu sein, empfängt er die Botschaft.
Und er empfängt zugleich die Tatsache, dass keiner auf ihn und seine Botschaft hören wird. Die Botschaft selbst werde das Herz der Menschen verfetten und sie begriffsstutzig machen. Die Ohren werde seine Botschaft verschließen statt öffnen und die Augen verkleben, so dass niemand mehr durchblickt.
Und das werde so lange gehen, bis das Unheil eingetreten ist, bis alles zerstört und erobert sein wird. – Jesajas Vision erscheint wie eine Rückprojektion aus der Zeit nach den schrecklichen Geschehnissen. – Alles war wahr geworden. Der Prophet hat seine Botschaft gepredigt – keiner hat gehört, Gott hat sein Gericht vollzogen.
Amos und Jesaja waren Außenseiter mit regime- und kultkritischen Botschaften. Sie waren zu ihrer Zeit nicht anerkannt. Aber nachdem ihre Prophezeiungen eingetreten waren, gewannen sie an Autorität und man schrieb ihre Botschaft in Büchern auf.
Das Jesaja-Buch wurde so wichtig, dass es neben der Liedsammlung der Psalmen im Neuen Testament am häufigsten zitiert wird. Unter den Funden von Schriftrollen in Qumran am Toten Meer gibt es nur eine vollständige biblische Schrift, und das ist das Jesaja-Buch. Rund 600 Jahre schrieb man an diesem Buch weiter, bis es die jetzige Textgestalt hatte. Das Buch war und ist unheimlich wichtig.
Die Vision des Jesaja besagt, dass Jahwe, Israels Gott, im Jerusalemer Tempel thront. Er ist der Heilige, dessen Herrlichkeit die Welt durchdringt. Als souveräner Herrscher hält er die Fäden der Menschengeschichte in der Hand. Gott handelt als Richter, der über die Sünden und Vergehen der Mächtigen urteilt. Zur Vollstreckung seiner Urteile bedient er sich auch fremder Völker. Völker, wie das überhebliche Assur, das er zu gegebener Zeit auch demütigt. Denn dieser Gott von Jesajas Vison ist Herr der Welt und wird über alle am Ende der Geschichte zu Gericht sitzen.
Alle, die sich gegenüber Gott hochmütig zeigen, kommen zu Fall. Das ist die bleibende Botschaft.
Die Propheten Amos und Jesaja, und nach ihnen andere, richteten diese Botschaft aus und wir halten sie bis heute in Händen (Bibel hochhalten!): Wer gegen Gottes Willen nach Gerechtigkeit und Frieden verstößt, den wird sein Zorn treffen.
Weiten wir an diesem Sonntag Trinitatis den Blick und schauen vom Gott der Geschichte aus auf seinen Sohn und den Geist. Das Gottesbild des Neuen Testaments.
Jesus, liebe Gemeinde, bleibt kein Einzelgänger-Prophet. Er schart seine Jüngerinnen und Jünger um sich und aus der Jesus-Tradition wurde christliche Gemeinde und schließlich Kirche.
Das Neue daran ist, dass sich eine Gruppe von Menschen bildet, die „Herausgerufen“ ist, denn das ist die Übersetzung des Wortes Kirche/Ekklesia.
Ähnlich wie das Volk, mit dem Gott einen Bund schloss, bewahren die „Herausgerufenen“ die Botschaften auf. (Bibel hochhalten!)
Nach der letzten, entscheidenden Eroberung des heiligen Landes durch die Römer und die Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus, musste sich das Judentum umorientieren und lernte, in der Diaspora ohne Tempel aber in Synagogengemeinden zu überleben und die Schriften zu bewahren.
Das frühe Christentum hatte von Anfang an nicht diese Option, dass hier ein Prophet wie Amos oder Jesaja aufsteht und sich an die Oberen des Gemeinwesens richtet.
Vielleicht war Johannes der Täufer der letzte dieser Art Propheten. Er bezahlte seine Kritik am Herrscherhaus mit dem Leben.
Jesus fiel einer viel anonymeren, fernen Macht zum Opfer. Dem römischen Imperium, einem Weltreich, das in eroberte Provinzen Statthalter und Truppen entsandte. Doch die Befehle und die Politik kamen von ganz oben in Rom und funktionierten in einem das ganze Leben, Handel und Wandel durchdringenden System.
Deshalb war es schon gar keine Option mehr, dass ein einzelner Prophet hätte aufstehen und den Kaiser und seine Eliten hätte anklagen können. –
Das Christentum hatte deshalb den anderen Ansatz:
Eine Gegenwelt aufzubauen!
Eine Gegenwelt der Freien, in der es weder Sklave noch Herr, weder Mann noch Frau, weder Arm noch Reich gab – weil ein befreiender Geist überall Gemeinschaft stiftete, Gemeinden, in denen sich Menschen gegen das herrschende System behaupteten und ihre eigenen Regeln befolgten.
Was die Gemeinden dafür brauchten, das waren die Schriften. Das waren die Worte. Das war der Geist, der sich ihnen aus den Schriften und Worten vermittelte.
Und es ist der Geist, der die alten Schriften bis heute erschließt und für uns heute noch zugänglich macht.
Das, liebe Gemeinde, war eine kurze Geschichte von Gott Vater, Sohn und heiligem Geist! – Dreifaltigkeit – in Botschaften geronnen, Botschaften, die sich in der Geschichte bewährt und bewahrheitet haben.
(Bibel hochhalten!)
Botschaften, die es wert sind, aufbewahrt zu werden, weil es um Lebenswichtiges geht.
Weisung Gottes für die Gemeinschaft, die leben will.
Spur der Hoffnung, die sich durch düstere Geschichte zieht. Lebendiger Geist für Gottes Volk auf seinem Weg durch die Zeit.


Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.