Predigt von Pfr. Dr. Stefan Bauer vom 7. Juli 2024, Matthäuskirche Landau
Apostelgeschichte 8,26-40
26 Aber der Engel des Herrn redete zu Philippus und sprach: Steh auf und geh nach Süden auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und öde ist. 27 Und er stand auf und ging hin. Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer[1] und Mächtiger am Hof der Kandake[2], der Königin von Äthiopien, ihr Schatzmeister, war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. 28 Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja. 29 Der Geist aber sprach zu Philippus: Geh hin und halte dich zu diesem Wagen! 30 Da lief Philippus hin und hörte, dass er den Propheten Jesaja las, und fragte: Verstehst du auch, was du liest? 31 Er aber sprach: Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. 32 Die Stelle aber der Schrift, die er las, war diese: »Wie ein Schaf, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt, so tut er seinen Mund nicht auf. 33 In seiner Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben. Wer kann seine Nachkommen aufzählen? Denn sein Leben wird von der Erde weggenommen.« 34 Da antwortete der Kämmerer dem Philippus und sprach: Ich bitte dich, von wem redet der Prophet das, von sich selber oder von jemand anderem? 35 Philippus aber tat seinen Mund auf und fing mit diesem Schriftwort an und predigte ihm das Evangelium von Jesus. 36-37 Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse?[3] 38 Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn. 39 Als sie aber aus dem Wasser heraufstiegen, entrückte der Geist des Herrn den Philippus und der Kämmerer sah ihn nicht mehr; er zog aber seine Straße fröhlich. 40 Philippus aber fand sich in Aschdod wieder und zog umher und predigte in allen Städten das Evangelium, bis er nach Cäsarea kam.
Verstehst du auch, was du liest? – So fragt der Apostel Philippus den lesenden Reisenden. Verstehen wir es denn jetzt gerade, was wir mit den biblischen Texten vor uns haben? Die Geschichte der Begegnung zwischen dem Kämmerer der Kandake und Philippus ist meiner Meinung nach ein Schlüssel zum Verstehen, was wir da vor uns haben. Ich meine das jetzt noch nicht vom Inhalt her, von den Buchstaben. Nein, ich denke zuerst einmal daran, wie es zu den Buchstaben kam. Viele Texte in unserer Bibel waren ursprünglich gar nicht schriftlich verfasst worden. Es waren Aussprüche, mündliche Aussagen, die weitergesagt wurden, von Mund zu Mund durch die Gassen und die Straßen, über die Dächer am liebsten in alle Welt wollten die Geschichten erzählt werden.
Die Geschichten, die man sich über die Urväter und Urmütter des Glaubens erzählte, über Abraham und Sarah über Mose und Mirjam und Zippora, über Samuel und Hanna, über Ruth und Amos und Jesaja und Jona.
Und dann die Geschichten, die man sich über Jesus erzählte. Worte von ihm, die man weitersagte. Man kannte sie zuerst über ihn und dann über die ersten, die seine Worte gehört hatten, Petrus, Johannes und Maria Magdalena, und dann Paulus und Lydia und viele, die ihn nicht selbst erlebt und dennoch mit ihrem Leben bezeugt haben.
Lange bevor die Texte Texte wurden, sind sie gereist, haben Wege zurückgelegt von Mund zu Ohr und wieder zum Mund. Sie sind geliebt worden, diese Texte. Man konnte sie auswendig. Einige konnte man ja sogar singen. Denn Texte, die man singen kann, die kann man sich am allerbesten merken. Und wenn uns einmal die Worte ausgehen oder durcheinandergeraten, dann können wir Menschen immer noch Lieder singen oder Gedichte aufsagen.
So ist unsere Bibel. So ist Gottes Wort. Tausendmal berührt und benutzt, abgeschliffen, vielleicht sogar hier und da falsch aufgeschnappt und schräg weiterkolportiert.
Unsere Botschaft ist Botschaft – sie ist auf Wegen entstanden, wie Lauffeuer oder wie Regenrinnsale, die bergab fließen. Und: Unsere Botschaft ist auch insofern Botschaft: – sie will ankommen, sie will alle erreichen, sie bleibt nie stehen, sie erstarrt nicht. Und wo sie erstarrt wirkt, stimmt etwas nicht.
Denn das ist jetzt für mich das Erstaunliche – sie verändert sich unterwegs. Sie bleibt nicht gleich! Denn selbst, wenn man aus dem Hebräischen oder Griechischen übersetzen und lesen kann, so verstehen wir Heutigen Hebräisch oder Griechisch ganz anders als die Menschen damals. Und so verändert sich das Wort und die Botschaft und sie muss es auch tun, denn sonst kommt sie in den Ohren von uns ja nicht mehr an.
Wenn da nun also einer auf seinem Karren sitzt, die rollenden Räder unter sich, und die Botschaft liest, die schon an so vielen Orten und in so vielen Mündern war, bis sie in seine Hände gelangte, und wenn dann noch ein Apostel, ein Gesandter, ein wandernder Prediger und Missionar unterwegs auf diesen Menschen in Bewegung stößt, dann kann etwas passieren! Dann kommt nämlich, wie wir in der Geschichte von Philippus hören, die Botschaft wieder ein wenig weiter – weiter auf der Straße, die der Karren zieht und weiter in das Herz dieses Kämmerers und weiter in eine Zukunft, an deren Ende heute nun wir stehen und sitzen und wieder fragen: Verstehst du auch, was du liest?
Ja, wir können es verstehen. Aber nur, weil das Wort sich verändert hat, weil es den Weg bis in unsere Zeit mitgegangen ist – über die alten Folianten, die in Klöstern bei Kerzenlicht mit heiliger Andacht abgeschrieben wurden. Das Wort ist mitgegangen und ist in neue Muttersprachen eingegangen. Latein hat ihm als Hülle nicht gereicht, weil die Ohren doch anders und so unterschiedlich hörten. Und so ist ja bis heute die Bibel das meistübersetzte Buch auf der Welt. Und für uns in Deutschland hat Martin Luther sogar so übersetzt, dass er eine eigene neue deutsche Sprache schuf, die bis in unser heutiges Sprechen und Schreiben hineinwirkt. Wie viele Worte nutzen wir im Alltag, die aus der Lutherbibel stammen? Wir tragen „jemanden auf Händen“, wir „hüten etwas wie unseren Augapfel“, wir arbeiten „im Schweiße unseres Angesichts“ und wir „rennen von Pontius zu Pilatus“. Diese Redewendungen und viele mehr stammen aus der Lutherbibel. Sie bezeugen die Bemühung um die Sprache, um das Verstehen, um das immer wieder neu in die Gegenwart sprechen und denken.
Verstehst du auch, was du liest? Das, was wir heute verstehen, das ist wieder etwas Anderes, als das, was dem Kämmerer zu dämmern begann. Es muss etwas Anderes sein, weil wir in anderen Zeiten leben und weil wir einen anderen Horizont haben als der Kämmerer damals. Das Wort muss immer wieder neu Fleisch annehmen, damit es verzehrt und verdaut werden kann.
Ein Zeitgenosse Kants, Johann Georg Hamann, hat dazu den Satz geprägt: „Es gibt keine ewigen Wahrheiten, als unaufhörlich zeitliche.“ Hamann war ein genialer Sprachkenner. Er wusste, wovon er redete. Er wusste, dass nach dem missglückten Turmbau zu Babel immer wieder die Verwirrung der Sprachen überwunden werden muss. Aber im Grunde ist das keine Bestrafung, sondern ein großer Segen, dass wir Menschen uns immer verständigen müssen! – Denn nur so kann man sich einigen, kann man die jeweils andere Sicht verstehen, kann man Kompromisse finden, kann man sich versöhnen.
Und, dass auch wir uns jetzt richtig verstehen: Das Evangelium von Jesus Christus, das Philippus damals dem Kämmerer als die Mitte der heiligen Schrift aufschloss, das gilt auch heute: Weil Gott uns dieses große Geschenk gemacht hat, die Botschaft in menschliche Worte zu fassen. Damit ist nicht nur Jesus fleischgeworden, sondern auch das Wort ist fleischgeworden, inkarniert in menschliche Sprache, die immer wieder erläutert und erklärt und erforscht werden will, weil sie niemals gleich bleibt, sondern unterwegs ist, die Sprache, und immer weiterrollt, wie der Karren des Kämmerers.
Ein besseres Bild gibt es nicht. Weil ja auch unser Leben so ein Karren ist, der immer weiter rollt. – Nur die Botschaft, die mitgeht kann uns auf unserem Weg erreichen und begleiten.
Und der Friede Gottes …