Platz für jeden Menschen

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Predigt von Vikar Maximilian Kölsch, Matthäuskirche Landau, Sonntag, 20.08.2023

Liebes Tagebuch,

heute will ich mich auf den Weg machen Frieden zu suchen und hoffentlich auch zu finden. Ich suche schon sehr lange danach. Täglich begegnen mir Menschen, die frei zu sein scheinen, aber sie sind es nicht. Reiche Männer und Frauen, die sich alles auf der Welt leisten können, sind doch in engen Grenzen gefangen. Jede Woche besucht mich ein Mann, der alles hat. Er ist angesehen, hat Geld, eine Familie und trotzdem ist er nicht glücklich. Er ist rastlos und hat seinen Frieden nicht gefunden. Er tut mir leid. Wenn er bei mir ist, versuche ich ihm seine Sorgen zu nehmen und ihm Frieden zu geben, wenigstens für eine kurze Zeit. Manchmal klappt es, heute jedoch nicht. So geht es vielen, die mich besuchen. Mir macht das zu schaffen. Ich bin oft die einzige Person, zu denen sie ehrlich sein können und zu der sie auch ehrlich sind. Bei mir sind sie ehrlich zu mir und damit auch zu sich selbst. Sie vertrauen mir so viel an. Doch gleichzeitig hassen sie mich für das, was ich mache, was ich bin, obwohl sie mich brauchen. Ich fühle mich alleine. Ich stehe am Rand, obwohl ich an intimsten Momente so vieler Menschen teilenehme. Das treibt mich um, das macht mir Angst… Bin ich denn nichts wert?

Wie du weißt hab ich mich das schon oft gefragt. Heute aber hab ich mir vorgenommen endlich Frieden zu finden. Ich habe von einem Mann gehört, der heute in der Stadt ist. Für den Mann spielt es keine Rolle, wer ich bin, was ich mache. Er spricht mit allen Menschen, isst mit ihnen, schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Das sagen zumindest die Leute. Vielleicht stimmt es ja, vielleicht redet er auch mit mir… Vielleicht hört mir endlich mal jemand zu… Ich habe Angst. Ich… Ich  hoffe es ist nicht nur ein weiterer Mann, der nur Hilfe, Zuneigung und Friede von mir wünscht und mich dann verstößt. Ich habe es verdient gewertschätzt zu werden. Hoffentlich sieht er es auch so. Wünsche mir Glück, dass heute ein Tag sein kann, an dem mich endlich jemand als das wahrnimmt was ich bin, das ich endlich Frieden finden kann. Ich wünsche mir das so sehr…

Predigttext Lk 7,39-50:

36Es bat ihn aber einer der Pharisäer, mit ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. 37Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl 38und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu netzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit dem Salböl. 39Da aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. 40Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! 41Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. 42Da sie aber nicht bezahlen konnten,


schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn mehr lieben? 43Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er mehr geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt. 44Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen genetzt und mit ihren Haaren getrocknet. 45Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. 46Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. 47Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. 48Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben. 49Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch Sünden vergibt? 50Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Eine Frau steht am Rand und ist doch mitten im Zentrum des Geschehens. Sie wird ausgegrenzt und doch beachtet sie jeder. In der Erzählung ist die Rede von einer Sünderin, vermutlich einer Prostituierten. Eine Frau, die aufgesucht wird, um Spaß zu haben, Frust loszuwerden oder um dem eigenen Leben zu entkommen. Abseits davon möchte niemand etwas mit dieser Frau zu tun haben, geschweige denn mit ihr zusammen gesehen werden. Sie wird gemieden. Zu Beginn haben wir einen möglichen Tagebucheintrag genau dieser Frau gehört. So stelle ich sie mir vor. Sie sehnt sich danach wertgeschätzt und angenommen zu werden. Ihr Alltag sieht dabei oftmals ganz anders aus. Menschen kommen zu ihr, um ihre eigenen Bedürfnisse zu stillen. Dabei sind es nicht nur Menschen, die alleine sind und Nähe suchen. Nein, es sind vor allem Menschen, deren Leben scheinbar gut läuft, die alles haben. Einen guten Job, eine Familie, Ansehen. Und doch sind sie unzufrieden, sind unruhig und sehnen sich nach anderem. Dann gehen sie zu der Frau und hoffen dort all das zu finden. Manchmal klappt es, manchmal nicht. Ehrlich sind diese Menschen nicht zu sich, gestehen sich das aber nicht ein. Die Frau hingegen kann leicht als Sündenbock dienen. Sie steht sowieso am Rand, niemand möchte öffentlich mit ihr gesehen werden oder gar mit ihr in Verbindung gebracht werden.

Die Frau lebt am Rand der Gesellschaft, sie wird nicht beachtet. So fällt es auch zunächst nicht auf, dass die Frau in der Geschichte einfach so ins Haus kommt. Niemand hält sie auf, keiner spricht sie an. Vielleicht denken manche: „Nicht dass sie mich erkennt“. Sie kann sich sprichwörtlich alles erlauben, keiner der Anwesenden macht etwas, nicht einmal der Hausherr selbst. Die Frau steht hinter Jesus, am Rand und tritt in das Zentrum der Aufmerksamkeit der Runde ein. Warum auch nicht? Sie hat ja schließlich nichts zu verlieren. Gleichzeitig hat sie jedoch alles zu verlieren. Wie zu Beginn gehört, hat sie erfahren, dass Jesus in der Stadt ist. Jesus, von dem die Menschen sagen, dass er mit Aussätzigen verkehrt und mit Randständigen gemeinsam isst. Die Frau, die sich nichts sehnlicher wünscht als normal behandelt und wertgeschätzt zu werden, sieht in Jesus ihre letzte Chance auf genau dieses Angenommen sein. Sie will Frieden finden. Aber sie hat Angst. Angst davor, dass sich vielleicht alles nur als Gerücht erweist und es diesen freundlichen Jesus gar nicht gibt. Angst davor, dass sie die Person ist, mit der Jesus ausgerechnet nicht sprechen will. Dass er sie auch meidet und hasst. Sie verliert alles, wenn genau das Eintritt, wenn ihre letzte Hoffnung zerstört wird und er sie abweist. Die Frau steht unter enormen Druck.

All ihre Ängste und all ihre Sorgen brechen in dem Moment aus ihr heraus, als sie zu Jesu Füßen kniet. Sie fängt an zu weinen. Wenn sie arbeitet, muss sie ihre Gefühle unter Kontrolle haben. Doch hier vor Jesus kann sie sich nicht mehr kontrollieren. An ihrer Reaktion auf die Tränen merkt man, wie unangenehm es ihr ist. Reflexartig trocknet sie mit ihren Haaren die Füße ab. Dabei handelt sie so, wie sie es kennt, mit einer erotisch intimen Geste. Das Waschen der Füße wurde in der Antike entweder nur von engen Familienmitgliedern oder im sexuellen Kontext praktiziert. Für die Frau verschwimmen die Grenzen, sie denkt nicht nach und handelt einfach. Dabei will sie weder Jesus bloßstellen noch ihn zu sexuellen Praktiken verführen. Für alle anderen wäre das ein großer Affront. Können sie sich das vorstellen? Jemand komm von hinten an sie ran und erlaubt sich eine Nähe, die sie sonst nur mit einer geliebten Person teilen. Ohne Erlaubnis und in aller Öffentlichkeit. Wie würden sie sich verhalten? Jesus reagiert ruhig und ohne großes Aufsehen. Er erkennt ihre Absichten und sieht ihre Angst. Jesus erkennt ihre Reaktion als Akt der Liebe an. Er lobt sie für ihre Bemühungen. Sie handelt aus seiner Sicht besser als der Hausherr selbst, der sich eigentlich in gesellschaftlichen Belangen auskennen sollte. Der Hausherr gab ihm kein Wasser oder Kuss zu Beginn. Er salbte sein Haupt nicht. Der Pharisäer begrüßte Jesus in seinem Haus also mit mangelnder Höflichkeit. Für Jesus ist die Frau, die sonst nur am Rand steht, somit ein Vorbild. Und damit verstößt Jesus die Frau nicht, sondern nimmt sie in ihrem Wesen an und schätzt sie Wert. Am Ende spricht Jesus zu ihr: „Dein Glaube hat dir geholfen, geh hin in Frieden!“ Endlich hat die Frau das gefunden, was sie gesucht hat. Sie hat ihren Frieden gefunden.

Als ich letztes Jahr in Hamburg war, habe ich auch die Reeperbahn besucht. Mitten auf der bekannten Feiermeile steht eine Kirche, die für jede und jeden frei zugänglich und offen ist. Tagsüber, als auf der Reeperbahn nicht viel los war, wollte ich mir die Kirche anschauen. Als ich davorstand und in die Kirche gehen wollte, sah ich, dass drinnen eine Frau saß, die weinte. Die Frau trug eine Jacke mit Leopardenmuster, einen kurzen Rock und High-Heels. Ich vermute, dass sie auf der Reeperbahn gearbeitet hat. Gleich der Frau im Lukasevangelium muss diese Frau sich immer unter Kontrolle haben. Ihre Gefühle spielen keine Rolle. Die Kirche war aber ihr Platz, an dem sie all ihre Emotionen und Sorgen freien Lauf lassen konnte. Es war ihr Ort, an dem sie Mensch sein konnte. Wo wenn nicht in dieser Kirche, wo wenn nicht hier ist ihr Platz?

Amen