Lebenszyklen

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Themapredigt zu einem Foto von Laura Marciel R (via instagram)
von Pfr. Dr. Stefan Bauer

Wir gehn dahin und wandern
von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen
vom alten bis zum neuen.

Es stimmt auch für diese Frühlingswochen, dass wir auf dem Weg sind, dass wir Wandernde sind, dass wir niemals stehen bleiben, niemals erstarren, auch, wenn uns unser Bewusstsein das vorspiegelt. Wir sind jeden Tag andere Menschen. Wir verändern uns ständig. Nur unser Gehirn tut so, als wären wir immer dieselben – als hätten wir eine Identität. Unser Gehirn arbeitet daran, dass alles einigermaßen zueinanderpasst, was wir mit uns und unserer Umwelt erleben.
Passionszeit und Ostern nehmen uns mit in die Läufe des Lebens und darüber hinaus. Wir wandern, wir gedeihen – vom alten bis zum neuen: Christus hat das Alte, den Tod ganz überwunden für das neue Leben bei Gott.
Wenn ich den Weg Jesu durch diese Tage bedenke, dann sehe ich: Nichts bleibt stehen. Nichts ist ohne Vergehen, aber allem wohnt auch der Same des Neubeginns, der Same des neuen, österlichen Lebens inne.

Wandern – vom alten bis zum neuen, leben und gedeihen. – Bis zum Schluss, und dann darüber hinaus.

Schauen Sie mal das wunderbare Bild von einer Brombeere, wie sie von der unscheinbaren Knospe diese schöne Blüte entfaltet und direkt die Blüte zur Frucht heranreift. 19 Wachstumsstadien vom Gedeihen sind hier auf einem Bild wiedergegeben, denn an einer Brombeere findet das alles gleichzeitig statt, wenn die entsprechende Jahreszeit da ist.
Früher gab es in den Kirchengemeinden viele Vereine und ich habe einige alte Protokollbücher lesen können. Vom Krankenpflegeverein zum Kirchenchor, vom Frauenbund bis zum Kleinkinderschulverein und zum Arbeiter- und Bürgerverein. – In den alten Protokollen von Jahresversammlungen steht da sehr oft zum Abschluss: Der Pfarrer wünscht dem Verein auch im kommenden Jahr „Wachsen, Blühen und Gedeihen“.
In Bezug auf die ganzen evangelischen Vereine bedeutete Wachsen und Gedeihen eine Zunahme an Mitgliedern, eine Zunahme an Engagement, eine Zunahme an Gemeinschaft. So wie heute, hier.

Wachsen, Blühen, Gedeihen, Fruchtbringen.
Das finde ich auf dem Bild mit der Brombeere wieder.
Ich denke an Jesu Weg. Seinen Lebensweg, den Weg von Galiläa nach Jerusalem, den Einzug in die Stadt, den Weg ans Kreuz. Bei seinem Einzug in Jerusalem – da war er gereift, da war sein Aufblühen ihm schon als Ruf vorausgeeilt, man jubelte ihm zu. Er war Frucht, meine ich.
Was wird aus der Frucht? Was wird aus der Brombeere?
Sie ist schön süß, sie schmeckt gut, wenn ich sie aus den stacheligen Ranken gepflückt habe, sie steckt voller Sonne.
In der Natur wird die Brombeere von Vögeln gepickt, gefressen, verdaut, als Lebenskraft verwertet, als Kalorien, als Vitaminquelle, dann ausgeschieden. Und der Same gelangt mit Hilfe der Vögel in alle Himmelsrichtungen. Aus ihm treiben neue Wurzeln, schlagen neue Ranken aus, wie man sie nur noch schwer aus dem Garten herausbringt.

Die Brombeere ist eine Pionierpflanze. Wo der Wald stirbt, erobert sie die Lichtungen und bewahrt den Boden vor Erosion.

Was wir hier sehen ist der Zyklus des Lebens. Es wird. Es verwandelt sich und es vergeht und nährt und sorgt für neues Leben. „Wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen.“
Als jetzt mein Vater starb, da ging so ein Zyklus zu Ende, so eine Wanderschaft – und mir fällt auf, dass das Bild von der Brombeere unvollständig ist. Es fehlt auf dem Bild das Nähren. Dass diese glänzend schwarze Frucht Kraft weitergibt. Es ist auf dem Bild nicht zu erkennen. Es fehlt auf dem Bild das Vergehen. Dass diese Blütenblätter braun werden, dass die Frucht faulen oder vertrocknen kann und vergeht. Es fehlt auf dem Bild das Aussäen. Dass da viel ausgegangen ist, dass da etwas weitergegangen ist von dem Mensch, von dem Leib, der stirbt.
Es ist wohl so, dass man Blüte, Frucht und Aussaat eines Menschenlebens nicht so schön und übersichtlich betrachten kann, wie das Bild von der Brombeere.
Denn Reifung ist etwas, was sich ganz langsam, fast unmerklich abspielen kann. Wohl gibt’s in einem Menschenleben spektakuläre Phasen des Aufblühens oder auch schlagartiges Verwelken. Daneben aber reift es langsam und die Aussaat, die ein Mensch getan hat, die Früchte erkennt man womöglich gar nicht als die seinen.

Aber was steckt doch in eines Menschen Leben an Säften und Kräften, die weiterwirken. Was kann man doch in einem Menschenleben für schöne Blüten finden, Phasen des Wachstums, Phasen des Verblühens und gleichzeitig Reifens.
Unser aller Leben, es erfüllt sich in dem, was wir an Leben weitergegeben haben werden:

Wann haben wir geblüht und andere erfreuen können? Wann haben wir andere genährt? Wann waren wir süß? Wann reiften wir so, dass wir von unserem Leben, Leben abgaben an anderes Leben? – Das wird es sein, was bleibt. Vielleicht wird man es einmal gar nicht mehr als Unseres erkennen. Es wandelt sich ja immer weiter – es wächst in denen, denen wir begegneten, es wächst in unseren Kindern, in Freunden und Feinden, in Begegnungen und Konfrontationen.

Was wäre gewesen, wenn Jesu Leben noch nicht vergangen wäre? Wenn er nicht schon gekreuzigt worden wäre? Wenn Jesus mehr Tage gehabt hätte? Hätte er noch mehr Leben weitergeben können, als er es so schon tat? Hat irgendetwas in seinem Leben gefehlt, was noch nicht reif werden konnte?
In unseren heutigen Kategorien gedacht, meinen wir vielleicht – hätte er uns doch genauer gesagt, wie man zu allen Zeiten ihm nachfolgen kann! Vielleicht wäre es gut gewesen, er hätte mehr Zeit mit den Frauen und den Jüngern gehabt, um sich mitzuteilen.
Aus heutiger Sicht würden wir sagen – ja, hätte er schnellere Verkehrsmittel gehabt – er hätte den Weg nicht gehen müssen, den er ging. Vielleicht einen Helikopter? Oder wenigstens einen Jeep für das unwegsame Gelände.
Aber dann wäre er doch den Menschen nicht begegnet, auf dem Weg, den er ging. Er konnte sie nur treffen, weil er diesen Weg ging, den er ging.

Wir denken – ja, mit modernen Medien hätte doch seine Reichweite viel größer sein können – die Botschaft hätte sofort über die Netzwerke überallhin ausgestrahlt und gesendet werden können. Dann hätte er follower ohne Zahl gehabt.
Aber ich meine, das Leben, das er weitergeben wollte, das sollte von da an immer von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Es gibt Botschaften, denen kein Medium angemessen ist, weil sie ein Gesicht brauchen und eine Hand und einen Leib.
Wir wissen doch, dass nicht einmal die Bibel als Medium ausreicht, das Leben, das Jesus brachte, weiterzugeben.
Wir müssen die Frucht des Wortes, die Frucht des Evangeliums jedes Mal neu pflücken und essen und kauen und schmecken und dann verwerten und verbreiten – wie die Vögel die Brombeersamen, nur angenehmer!

Nein, Jesus war die volle Frucht geworden als er damals in die Stadt einritt, umjubelt und umschwärmt. Vielleicht war er immer schon die volle Frucht – schon im Stall und in der Krippe. Obwohl, ich meine es gab da ein Reifen, ein Lernen, ein Enttäuschtwerden auch; es gab Freude, es gab Überraschung, es gab Trauer und Abschied und Willkommen in seinem Leben.
Es gab Leben in Fülle auf Jesu Weg. Für mich ist er kein Fixstern von Ewigkeit zu Ewigkeit – für mich ist er menschgeworden, auf den Weg geworfen, gewachsen, gediehen, aufgeblüht, gereift, zur Frucht geworden – zu einer Frucht, die noch immer nährt, süß ist, blüht, duftet, grünt, ins Leben ruft.

Der Zyklus geht zu Ende – manchmal abrupt, manchmal sanft. Aber der Lebenszyklus kann nur durch sein Ende Lebenszyklus sein. Und im Ende geht das Leben weiter in neues Wachsen, auf neue Wege. Ostern.
Dort, wo das Leben, neues Leben anstößt, bewirkt, provoziert, voranbringt, zur Reife bringt, da ist es Leben.
Das Kreuz und alles, was das Leben bedroht, alles, was dem Leben Gewalt antut, alles, was das Leben in tödliche Abhängigkeiten bringt, alles, was Leben beschädigt, alles, was nur Lebenskräfte aussaugen will, alles das, das Kreuz, es wird niemals stärker sein als der Zyklus des Lebens von Gott her. Dieses Leben von Gott her ist im auferstandenen Christus für uns da und will uns stärken. Amen.