Jesus und der Tiefpunkt

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Predigt über Mt 27,33-54 von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer
Matthäuskirche Landau, Karfreitag 2024

Liebe Gemeinde,

am Ende jedes Gottesdienstes heißt es: »Der Herr segne euch und behüte euch. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch.« Bald feiern wir hier wieder eine Taufe, und dann heißt es: »Nimm hin den Heiligen Geist, Schutz und Schirm vor allem Argen.« Wir bitten um Segen, um Behütetsein.
Doch, wenn wir hier zusammen kommen, dann wissen wir um die andere Seite, um die Realität von Verlassenheit, Leid und Elend um uns herum. Hier hat vielleicht ein junger Mensch einen Herzinfarkt erlitten und ringt um sein Leben. Dort ist jemand schwer erkrankt und muss alle Kräfte nun zusammennehmen. Und dort ein Mensch, der schon die letzte Wegstrecke vor sich sieht und keinen Menschen hat, der ihn begleitet.
Wir wissen um so viele Gebete, wir beten selbst und hoffen – kommt es an? Wir singenLoblieder. Aber meistens ist es doch so, dass ich hier stehe und von Gottes Bewahrung predige und mein Blick auf Menschen fällt, die Schweres durchmachen.
Und dann kann es ins Wanken kommen, das Gotteslob und der »Schutz und Schirm vor allem Argen« wird in Gedanken rissig und alle Worte von Bewahrung und behüteten Wegen kommen ins Stocken. Gebet verstummt.
Wenn ein gewaltsamer Tod stattgefunden hat, wie es zurzeit an so vielen Orten auf der Erde an der Tagesordnung ist, wenn durch Unfall oder Gewalteinwirkung, vielleicht auch durch ein plötzliches Organversagen das Leben von Menschen abrupt endet, was sind dann diese Worte wert? – Bewahrung hat nicht stattgefunden, Schutz und Schirm, Stecken und Stab haben nicht mehr getröstet, weil Tod und Leid eingebrochen sind in das Leben von Menschen. Und dann kann man nicht sagen: „Das wird schon wieder, Kopf hoch, auf Regen folgt Sonne!“
Aber auch an jedem beliebigen Grab kann man das nicht sagen: „Das wird schon wieder, Kopf hoch, auf Regen folgt Sonne!“

– Solche Worte werden vor Trauer und Leid zum billigen Trost, mit denen sich der Tröstende aus der Beklemmung der Situation freikaufen will. – Es gibt nach Ereignissen, die unser Leben erschüttern eine Hilflosigkeit, die uns die Sprache erst einmal nimmt. Wortlos Aushalten ist dann vielleicht die einzige Möglichkeit des Beistands. Das Leid ein Stück weit teilen und dabei den Schmerz der Betroffenen respektieren.

Es gibt ein Leid, das hinter unsere Glaubens- und Hoffnungssätze plötzlich dicke Fragezeichen schreibt. Und an solchen Tagen bin ich froh, dass es Karfreitag gibt!
Ich meine Karfreitag nicht als Kalendertermin und nicht als Gedenktag im Kirchenjahr. Ich meine Karfreitag als Geschehen und Botschaft. Und diese Botschaft sagt uns vor allem: Sieh nicht weg! Sieh hin nach Golgatha!
Schau hin auf den Kalvarienberg vor den Toren Jerusalems: Gottes Sohn stirbt um die neunte Stunde – und er stirbt mit einem Schrei. Und plötzlich scheint auch hier nichts mehr zu stimmen: Alle die Sätze von Gottes Allmacht und seinem »Schutz und Schirm« stimmen irgendwie nicht mehr.

Und es hilft auch nicht, nach Erklärungen zu suchen: Warum musste er denn nach Jerusalem gehen? – Genauso wenig, wie es hilft zu fragen: Warum ist die Frau bloß nicht eher ins Krankenhaus gegangen? Und warum hat das Kind nicht an der Straße aufgepasst? Jesus stirbt – und das Kind ist tot und die Frau liegt im Sterben. Und es gibt keine Begründung und keine Erklärung hilft weiter.
Was könnte jetzt noch heilen, wo das Heil selber, wo der Heiland stirbt? »O Welt sieh hier dein Leben, dein Heil sinkt in den Tod« (EG 84,1). Und was könnte trösten? Da hängt der »Trost der ganzen Welt« (EG 7,4) am Kreuz. Und dieses Golgatha vollzieht sich auch für Menschen in unserer Stadt und in unserer Gemeinde, die jemanden verlieren oder deren Lebenszeit verrinnt unter der Krankheit.

Es gibt dann nur noch dieses eine, was noch stimmt: Jesu letzte Worte aus dem Matthäusevangelium. Sein letztes, verzweifeltes Gebet:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Warum hast du mich verlassen?
Für manche von uns ist dieser Satz ein Ärgernis. Wir wollen dieses Warum nicht aus dem Mund Jesu hören und eilen zu den anderen Evangelisten.
Bei Lukas lauten Jesu letzte Worte:
Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.
Das klingt vertrauensvoller.
Und beim Evangelisten Johannes sind Jesu letzte Worte:
Es ist vollbracht.
Und das klingt dann schon wieder, als wäre all das am Kreuz beabsichtigt gewesen, es klingt nach Sieg und nach Überlegenheit. Die letzten Worte Jesu aus dem Lukas- und Johannesevangelium bringen wir leichter mit unserer geläufigen Gottesvorstellung zusammen.

Aber die Sterbeworte Jesu aus dem Matthäusevangelium verursachen einen Riss in unseren Vorstellungen von Gott: Wie kann der, den wir als wahren Gott bekennen, dort am Kreuz selber sprechen: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Wie kann der, den wir als Gottes Sohn bekennen, die Sprache der Gottverlassenen sprechen? Das ist das Anstößige und Aufwühlende der letzten Worte Jesu nach dem Matthäusevangelium. – – – Aber vielleicht sind es gerade diese Worte, die zum Eckstein werden können für die, die nicht mehr aus noch ein wissen.

Seit jenem Satz aus Jesu Mund – Mein Gott, warum hast du mich verlassen? –seit jenem Satz wissen die Leidenden dieser Erde, dass Gott ihre Sprache spricht. Er spricht ihre Sprache aus eigener Erfahrung. Es ist die Sprache der Eltern, die ein Kind verloren haben. Es ist die Sprache der Frau, die mit einem Tumor im Sterben liegt. Jesus schreit, wie auch die Eltern in ihrer Verzweiflung und Verlassenheit schreien mögen, wie auch ein Mann oder eine Frau innerlich schreien mag, der oder die das qualvolle Sterben der Partnerin oder des Partners mit ansehen muss: Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Jesus weiß, was es heißt, im Sterben zu liegen. Er hat es erfahren.

Es kann sein, liebe Gemeinde, dass uns ein Leid geschieht, in dem wir der Bibel alle behütenden und bewahrenden Sätze nicht mehr glauben können. Alle Bilder vom guten Hirten, von den Fittichen, unter denen wir Geborgenheit finden, alle Bilder von Gottes gutem Willen für uns können in die Brüche gehen angesichts eines bevorstehenden oder eines erlittenen Verlustes. Es kann sein, dass dann unseren Gebeten die Worte ausgehen. – Und dann haben wir vielleicht nur noch diesen Sterbesatz Jesu, zu dem wir im aufgewühlten Meer schwimmen können wie zu einem Rettungsring. Dann ist es vielleicht dieser eine Satz, an dem wir uns festhalten können, wie an einem rettenden Seil, wenn der Boden unter den Füßen wegbricht.
Mag sein, dass wir den Glauben an Gottes Allgegenwart nicht zusammen halten können mit der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz. Mag sein, dass wir den Glauben an Gottes Allmacht nicht zusammen bekommen mit diesem Schmerzensschrei. Mag sein, dass wir den Glauben an Gottes Schutz und Schirm nicht durchhalten, wenn wir an den Tumor eines Freundes oder an einen tödlichen Unfall denken. Mag sein, dass wir es alles nicht mehr zusammen bekommen. – Gott bekommt es zusammen.

Denn die Religionsgeschichte kennt keinen Gott, der dorthin gegangen wäre, wohin unser Gott gegangen ist. Er ist dorthin gegangen, wo kein Gott war. Er ist in sein Gegenteil gegangen – in die Gottverlassenheit. Er hat sie am eigenen Leib erfahren und erlitten. Er war dort, wo die Ohnmacht wohnt. Er war dort!
Er ist dort, auf dass für uns gilt: Kein Ort, nirgends, wo Er nicht ist! Gottes Allgegenwart ist auch in der Gottverlassenheit. Gottes Allmacht ist auch in der Ohnmacht. Er hält aus, erhält zusammen. Gottes Leben ist auch im Tod.

Jesus schreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? – Ich meine, es ist gerade dieser eine Satz, um dessentwillen wir Christus all seine anderen Sätze glauben können. Vielleicht ist es gerade dieser eine Satz, der zum Eckstein und zum Fundament werden kann, auf dem der Glaube sein Haus baut – auch aus Trümmern.

Das, was wir nur in tastender widersprüchlicher Sprache vom Kreuz ablesen können: Gottes Allgegenwart in der Gottverlassenheit. Gottes Allmacht in der Ohnmacht. Gottes Leben auch im Tod. Möge es die Eltern, die um ihr Kind bangen begleiten, möge es der Mensch auf seiner letzten Wegstrecke spüren. Mögen es unsere Verstorbenen erfahren. Und mögen die Leidenden schauen, wovon wir mit dünnen Worten reden:
Dort am Kreuz, dort auf Golgatha ist Gott bei euch! Gott ist mit euch!