Ansprache im Seniorenheim über Psalm 121
von Pfr. Dr. Stefan Bauer
Liebe Geschwister! An jedem Silvestertag mischen sich in uns die Gefühle: da ist Wehmut über die verstrichene Zeit, Erleichterung, ein wenig Skepsis und Hoffnung im Blick auf das kommende. Wir schauen zurück und erinnern uns, was das Jahr uns gebracht hat, welche Veränderung von Lebensumständen …, welches Durchmachen von Krankheit …, welche beglückenden Stunden …, welche Abschiede …, vielleicht ist ja aber auch Schönes geschehen, vielleicht ist ein alter Traum in Erfüllung gegangen …! Wir schauen zurück und sind dankbar und froh über das Gelungene, bekümmert über das Schwere, das wir spürten.
Was auch das Bestimmende war, das dieses Jahr uns gebracht hat: Auch dieses Jahr gehört jetzt zu unserer Lebensgeschichte, hat uns geformt und verändert. Wir haben manches lernen müssen oder lernen dürfen, aber auch manches überraschend empfangen und genießen können. Es war ein weiteres Jahr aus Gottes Hand, geschenkte Zeit.
Und jetzt schauen wir voraus auf das kommende Jahr, von dem wir doch noch fast gar nichts wissen. Wird sich fortsetzen, was wir kennen: der tägliche Ablauf der Stunden, die gewohnte gesundheitliche Verfassung, das Leben im Haus und in der Gemeinschaft? Wer weiß, was sich alles um uns herum und auf der Welt ereignen wird? Wir hoffen immer wieder auf ein Jahr ohne Katastrophen, ohne Gewalt, Terror und Krieg, ohne harte Auswirkungen des Klimawandels, ohne Wirtschaftskrisen oder Pandemie. Was im Großen geschieht, auch, wenn wir es ausblenden, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf uns.
Jetzt stehen wir also an diesem Punkt, an der Schwelle, wo das Buch des vergangenen Jahres geschlossen wird. An ihm lässt sich jetzt nichts mehr ändern oder umschreiben. Das Leben ist ein Weg, den wir in unzähligen Schritten gehen. Dieser Weg führt nicht immer durch dasselbe Land. Wir durchqueren die Länder der Kindheit, der Jugend, des aktiven Lebens und des Alters.
– Als junge Menschen sind wir manches Mal bedenkenlos und selbstgewiss nach vorne gestürmt, wir haben Hindernisse überrannt und Bedenken verlacht. Unser Weg war wie das Versprechen immer neuer Länder und Abenteuer.
– In späteren Jahren haben wir erkannt, was uns trieb, im Guten und im Problematischen. Und haben manchmal auch den Preis gezahlt – für falsche Entscheidungen, verpasste Gelegenheiten, mangelnde Menschlichkeit. Unser Weg flog an uns und unserer Geschäftigkeit vorüber. Es zählte mehr, wer mit uns unterwegs war.
– Im fortgeschrittenen Alter wissen wir genauer, was wir von unseren eigenen Motiven zu halten haben – und dass wir uns manchmal selber damit ein Bein stellen. Wir kennen unsere Kräfte und Fähigkeiten, aber auch unsere Grenzen.
Unser Weg hat jetzt viele Aussichtspunkte. Wir haben Zeit, die Länder, an denen wir früher vorüberrauschten, nochmal in Ruhe zu betrachten. Das Tempo hat zum Glück abgenommen. Ja, wir sind angekommen. Vielleicht mehr als je genießen wir den Tag, der uns gegeben ist: den Sonnenstrahl, der in unser Zimmer fällt; den Gesang des Vogels und den Zug der Wolken; das tägliche Brot; den Klang unserer Lieblingsmusik und jedes freundliche Wort, das wir hören.
Wir gehen in das neue Jahr und wissen: Nichts ist selbstverständlich. Wir sind noch immer Suchende, noch immer Hoffende; wir sind noch immer gebunden an unsere Schwächen und die Eigenarten anderer. Aber das Leben ist uns trotz aller Widrigkeiten lieb geworden.
Wir wissen, es geht nicht ewig. Da sind kleine Abschiede – wenn wir Jüngeren ehrlich sind, erleben wir diese kleinen Abschiede auch. Da ist so mancher Ort, den wir nicht mehr besuchen werden. Da sind Menschen, die wir nicht mehr wiedersehen werden. Da sind Kräfte und Fähigkeiten, die wir für immer verloren haben.
Werden und Vergehen, Gesundheit und Krankheit gehören zum Leben und sind nur bedingt beeinflussbar. Auch jetzt brauchen wir einen Halt, eine Gewissheit. Wir brauchen mehr als Versicherungen und ersparte Rücklagen. Mehr als Menschen um uns geben können. – Wir brauchen etwas, was uns von einer höheren Perspektive aus hält.
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?
Die Frage bewegt uns, wenn wir an unsere Grenzen stoßen. Wenn die Strec ke vor uns unwegsam wirkt.
Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.
Als Kinder lernten wir im Schutz der Eltern, das Leben zu wagen.
Heute sind wir erwachsen. Die Schmerzen streichelt niemand mehr fort, wie früher die Mutter, und keiner fängt uns, wie früher der Vater, wenn wir übermütig von einem Baum springen. Die Partner und Freunde, mit denen wir das Leben teilen, teilen auch seine Zerbrechlichkeit. Die Kinder-Geborgenheit ist vergangen. Und doch sind wir nicht verlassen.
Der Glaube macht uns stark durch die alten, tröstenden Worte und Lieder: Es gibt ihn, der stärker und weiser ist als wir; der vertrauenswürdig ist und uns in Liebe anschaut. – Und wir sitzen auf seinem Schoß, auch wenn wir es nicht sehen und tasten können.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Der Herr behütet dich;
der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand, dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.
Gott ist wie Vater und Mutter, wie ein Hirte, der nicht schläft, sondern stets auf Gefahren und den richtigen Weg achtet. Gott ist wie ein Schatten, der vor den stechenden Strahlen der Sonne oder des Mondes das Leben bewahrt. Gott will segnen, wie der Psalmist schreibt:
Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele. Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit!
Das ist ein Segen, den wir empfangen und den wir selbst auch geben können: In Zeit und in Ewigkeit möge dieser Schutz Gottes über uns sein und seine Bewahrung uns tragen.
Im gegenseitigen Segenswunsch, können wir den Schritt über die Schwelle wagen.