Fluchtreflexe

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Predigt im Abendklang-Gottesdienst, 10.03.2024, Matthäus*Landau
von Pfr. Dr. Stefan Bauer
nach einem Beitrag über Petrus von E.C. Markert und T. Schollas in: Trauma und Trauer – Impulse aus christlicher Spiritualität und Neurobiologie, Stuttgart, 2009

Heute erzähle ich von Simon Petrus. Vertrauter Jesu, einer seiner engsten Freunde. In der Passionszeit kommt sein schockierender Verrat zur Sprache. Das war keine Sternstunde. Wir alle haben nicht immer Sternstunden. Das soll nichts entschuldigen. Aber ein Mensch verdient, als Mensch gewürdigt zu werden.
Heute erzähle ich von Simon Petrus. Vertrauter Jesu, einer seiner engsten Freunde. In der Passionszeit kommt sein schockierender Verrat zur Sprache. Das war keine Sternstunde. Wir alle haben nicht immer Sternstunden. Das soll nichts entschuldigen. Aber ein Mensch verdient, als Mensch gewürdigt zu werden.

Simon Petrus traf der Mord an Jesus wie der Schlag. Sein Lebensziel und Lebenssinn wurden schlagartig erschüttert. Er war seit Galiläa mit dabei. Seit Jesus an die Öffentlichkeit gegangen war. Wie Maria aus Magdala und andere, so hatte auch Simon aus Kapernaum seine Berufung am See Genezareth erfahren und war seitdem Jesus gefolgt.
Er erlebte die Heilung der eigenen Schwiegermutter vom Fieber, eines der ersten Wunder, die Jesus tat. Das hat etwas gemacht mit Simon. So grundstürzend waren die Erfahrungen mit Jesus, dass der Fischer aufbrach, zusammen mit seinem Bruder Andreas, in eine ungewisse Zukunft – getragen von Begeisterung. Vielleicht auch von einem Gefühl, nichts mehr verpassen zu wollen, was sich um Jesus herum tat. Hoffnung brauch auf, Sehnsüchte erwachten.
Von Anfang an schien es aber so, dass Simon sich selbst überschätzte, dass seine Bereitschaft und Begeisterung seine menschlichen Möglichkeiten überstiegen. – Das wird zum ersten Mal in der Wunder-Erzählung vom Seewandel Jesu deutlich. Simon verließ das Schiff, um Jesus auf dem Wasser zu folgen, bekam dann aber Angst, zu versinken und versank. Nach seiner Rettung sprach Simon zum ersten Mal sein Bekenntnis zu Jesus aus: Du bist Gottes Sohn!

Die Erfahrung des Wollens und dann Scheiterns – schließlich aber nicht unterzugehen, sondern von Jesus gerettet zu werden, diese elementare Erfahrung wiederholte sich mehrmals in Simon Petrus‘ Leben und ist ein Hinweis darauf, was er für eine Persönlichkeit war: Ein Mensch, der von seinen Gedanken her entschlusskräftig war. In seinem Begreifen war Simon Petrus alles klar – er erkannte, wer Jesus war – noch vor den anderen Jüngern. Er erkannte die enge Verbindung zwischen Jesus und Gott.
Aber tiefer liegende Empfindungen machten Simon Mühe. Wenn Angst in ihm hochkam, dann nutzten seine Entschlüsse nichts mehr – und er wurde ein Opfer seiner Stammhirn-Reflexe.

Wir wissen, welche Position dieser klare und entschlusskräftige Denker Simon im Kreis der Jünger mit der Zeit innehatte: Jesus gab ihm wegen seiner Bekenntniskraft, seinem klaren Verstand und seiner Führungsstärke den Beinamen Petrus – er sah in ihm den Felsen, an dem sich die anderen würden festhalten können, wenn die Flut kommt.
Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir Simon Petrus regelmäßig in der ersten Reihe der Jünger wieder finden: Zusammen mit dem Brüderpaar Jakobus und Johannes erlebte Petrus die Verklärung Jesu auf dem Berg. Und diese drei wählt sich auch Jesus aus, mit ihm im Garten Gethsemane zu wachen. Drei Mal misslang ihnen das trotz besten Willens.

Und so sind wir auf den Spuren des Petrus jetzt im Passionsgeschehen angekommen, beim Leidensweg Jesu, der unser Thema ist – in den Kirchen in diesen Wochen vor Ostern. Dieser heutige Sonntag Lätare ist genau die Mitte der Fastenzeit. Jesu Gefangennahme und sein Prozess waren wieder so eine Herausforderung für Petrus. Wieder versagte sein kühler Verstand. Von seiner Verleugnung Jesu hören wir jetzt die Schilderung, wie sie im Lukasevangelium zu finden ist. Ich lese aus Lukas 22:

31 Simon, Simon, siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sieben wie den Weizen. 32 Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dann umkehrst, so stärke deine Brüder. 33 Petrus aber sprach zu ihm: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. 34 Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, dass du mich kennst.
Sie ergriffen Jesus aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. 55 Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. 56 Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. 57 Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. 58 Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin’s nicht.
59 Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. 60 Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. 61 Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. 62 Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
Herr, segne dein Wort an uns. Amen.

Was Jesus angekündigt hatte, das geschah: Aus sicherem Abstand verfolgte Petrus alles – immerhin tat er etwas. Von den anderen wird es nicht berichtet.
Petrus wird von einer Magd erkannt. – Da passiert etwas mit ihm. Die Werte, die er sonst vertritt, die verlieren blitzschnell ihre Gültigkeit. Der Verstand setzt wieder aus. Denn mit der Verdächtigung durch die Magd gerät er wieder in Lebensgefahr.

Die heutige Gehirnforschung kann genau beschreiben, was mit Menschen passiert, die sich plötzlich einer lebensbedrohlichen Gefahr ausgesetzt sehen. – Das Gehirn schaltet auf Überlebensmodus, d.h. der Schrecken aktiviert ganz ursprüngliche Reflexe im Menschen. Das spielt sich auf der Ebene der Hormone ab. Wer sich einmal in Lebensgefahr befand, der weiß hinterher meist nicht mehr, warum er so oder so gehandelt hat – das liegt genau daran, dass die normale Vernunft in solchen Situationen vom Gehirn außer Kraft gesetzt wird und stattdessen eine Panikreaktion einsetzt.
Über drei unterschiedliche solcher Reflexe verfügt jeder Mensch – denn diese Überlebensreflexe haben wir mit den Tieren gemein. Die drei Reflexe sind: Flüchten, Angreifen oder Totstellen.
Wäre für Petrus aus der Bedrohung ein Akt der Gewalt geworden, dann hätte er sich vielleicht totgestellt – Menschen dissoziieren dann, sie treten aus ihrer eigenen Persönlichkeit heraus. Das ist ein Trick des Körpers, wie er Schmerzen aus dem Bewusstsein heraushalten kann.
Bei Petrus ist es nur der bedrohliche Schrecken. Allerdings bewirkt die in ihm aufsteigende Angst, dass er seinen ursprünglichen Wunsch vergisst. Bei Jesus bleiben. Stattdessen übernimmt die Stressreaktion die Regie.
Die Leugnung ist ein erfolgversprechendes Vermeidungsmuster. Bei Petrus wurde es aktiviert und so lange aufrechterhalten, bis die akute Gefahrensituation vorüber war.

Als der Hahn kräht, kehren auch die Gefühle und Werte des Petrus blitzartig zurück. Wie bei einem Menschen unter Hypnose, wenn der Hypnotiseur mit dem Finger schnippt, so wechselt Petrus von der reflexartigen Abwehr durch Verleugnung zum Empfinden zurück.
Ich meine, dass in dem Augenblick Petrus beginnt zu trauern. Er trauert darüber, dass er Jesus verliert. Und er trauert wohl auch über sich selbst. – Wieder ist er in der Bedrohung eingeknickt und wieder verlor er die Kontrolle wegen seiner unwillkürliche Reaktion.
Mit dem Satz: „Ich kenne ihn nicht“ hatte Petrus letztlich auch sich selbst verleugnet.
Aber dieser tiefe Frust über sich selbst führt Petrus zu seinen Gefühlen und Werten zurück. Das sehen wir daran, dass er jetzt bittere Tränen vergießt.

Tränen können verwandeln. Mit unseren Tränen geben wir zu, dass wir nicht die Kontrolle haben – nicht über die Welt, nicht über unsere Mitmenschen, nicht über uns selbst und unsere Gefühle. Tränen machen uns menschlich. Denn da zeigen wir uns verletzlich und weich.
Wir sind es nicht, die alles zusammenhalten. Wenn wir weinen, wird uns das bewusst. Und das kann eine Befreiung sein.
Wir haben diesen Jünger drei Mal einschlafen gesehen in der Nacht am Ölberg. Wir haben ihn drei Mal Jesus verleugnen hören. – In Johannes 21. erscheint der auferstandene Jesus den Jüngern zum dritten Mal und hält mit ihnen das Mahl. Und dann heißt es:
15 Als sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! 16 Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe!17 Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe!18 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.19 Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach!

Drei Mal: Hast du mich lieb? – Drei Mal: Ja! Das heilt in Petrus den geschehenen Verrat.
Die Begegnung mit dem Auferstandenen verändert die Trauer. Petrus bekommt gegenüber dem Auferstandenen die einmalige Chance, seine Liebe ein letztes Mal auszusprechen. Und jetzt fühlt er sich wieder angenommen, nach seinem Verrat rehabilitiert in den Augen des Freundes.
Und er erkennt auch neu den Grund für seine Liebe:
Jesus kennt mich, Jesus nimmt mich an, Jesus vertraut mir, Jesus beauftragt mich, weil er mich, so wie ich bin, braucht.
Für Petrus ist da Ostern geschehen.

Amen.