Die Schönheit der Gebote

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Predigt über 2 Mose 20,1-12 von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer, 15.10.2023

Liebe Gemeinde, was ist uns heilig? Ich würde erstmal antworten – meine Familie. Und dann vielleicht: meine Freiheit – dass mir keiner reinredet und dass das, was mir ist, mir bleibt. Und dann wahrscheinlich: Gesundheit, so weit sie in meiner Macht steht.

Was ist uns heilig? – Jesus wurde ja gefragt, was das höchste Gebot sei. Gebot meint ja, dass etwas geboten, dass es wichtig ist. Seine Antwort: Gott lieben aus vollem Herzen – und deinen Nächsten wie dich selbst. (Mk 12,28ff) Das kann man als Zusammenfassung der beiden Tafeln der Zehn Gebote verstehen – es geht zuerst um Gott, die Ehre seines Namens und die Achtung des Feiertags, dann um alles, was das Zusammenleben der Menschen gerecht und schön machen soll. – Ja, aber wie kann das sein, nach dem höchsten Gebot zu fragen? Was soll überhaupt die Frage? Das höchste Gebot? Gibt es nicht zehn davon? Und sind die nicht alle gleich wichtig? Sollen sie doch von Gott selbst geschrieben worden sein!

Tatsächlich, liebe Gemeinde, sind die Zehn Worte, wie sie auf Hebräisch einfach heißen, ganz einmalig in ihrer Zeit. Dass das Judentum in die Weltgeschichte ein Gottesrecht einführt mit den Zehn Geboten, das war ein geistesgeschichtlicher Sprung! Denn das, was im jüdischen Gesetz so steht, das ist an sich von seinem Inhalt nichts Besonderes. Im Alten Orient gab es eine breite Rechtstradition mit vergleichbaren Texten. Aber alle anderen Rechtssammlungen hatten Könige als ihre Autoren. Nicht etwa Gott oder die Götter.

Schauen Sie mal auf das kleine Bildchen. Der da rechts sitzt, das ist der babylonische König Hammurapi. Wir sehen den Kopf einer 2,25 m hohen Stele, die 1901 von einem französischen Archäologen-Team in der Perserstadt Susa ausgegraben wurde und jetzt im Louvre steht. Hammurapi betet den Himmelsgott Schämäsch an, der links von ihm steht. Als Zeichen der Macht des Königs bekommt Hammurapi von Schämäsch einen Stab und einen Ring überreicht. Aber der König ist derjenige, von dem die Rechtstexte auf dieser Säule stammen. Diese Sammlung wurde noch mehr als 30 mal an anderen Orten gefunden und war sehr verbreitet. So ging das also gewöhnlich im Orient: Die Könige veröffentlichten Gebote und Beispielfälle, an denen sich die Richter orientieren konnten. Sie schlossen mit ihren Vasallen Verträge. Und genau wie so ein assyrischer Vasallenvertrag liest sich der Anfang des jüdischen Rechts. Nur steht im Kopfbogen jetzt kein mächtiger König mehr, sondern Gott. Da behauptete also zum ersten Mal in der Geschichte dieses Volk Israel, seine Gebote seien von Gott selbst aufgeschrieben! Damit gewinnt das Ganze natürlich eine ganz andere Qualität.

Kommt es daher, dass für mich die Zehn Gebote immer wie so ein Menschheitsgesetz klingen?

– Wie das Minimum an Regeln eines guten Zusammenlebens.

– Wie die Ausformulierung meines Gewissens.

– Wie eine Basisversion der Internationalen Menschenrechte.

Durch die Zuschreibung zu Gott als Geber der Gebote kam etwas Großes in die Welt. Denn die Verehrung Gottes als Urheber und Autor der Gebote bedeutete doch, dass die Könige nicht mehr so wichtig waren. Wenn ich mich an den Himmel, an Gott binde, dann bin ich auf Erden erst wirklich frei von allen irdischen Potentaten und ihren Machtansprüchen und ihrem Anspruch enthoben, das Zusammenleben ihrer Untertanen durch Rechtssetzungen zu regeln.

Wie ist es dann in einer Demokratie? Grundgesetz und alle unsere Gesetzbücher und Regeln des Zusammenlebens sind das Ergebnis demokratischer Entscheidungen. Gesetze werden von der Regierung erarbeitet und eingebracht, im Parlament beraten und beschlossen. Mit Mehrheiten. Ich hoffe, dass es bei uns demokratisch bleibt, denn in vielen Ländern, von USA über Polen bis Israel kann man erleben, dass die Mehrheit anfängt, die Demokratie abzuschaffen und das Rechtsstaatsprinzip zu untergraben.

Wenn das der Fall ist, dann wird es wieder umso wichtiger, dass es Gebote, Grundsätze gibt, die im Himmel ankern, in Gott, und keine Macht der Welt und keine menschliche Fehlentscheidung kann sie untergraben und aushebeln. Dietrich Bonhoeffer ist da der Leuchtturm des Widerständigen, das sich aus dem Glauben getragen weiß.

Auf der anderen Seite sehen wir aber auch Spielarten fundamentalistischer Religionsauslegungen, bei denen genau unter Berufung auf göttliche Weisung und Texte Menschenrechte und Demokratie mit Füßen getreten werden. Ich denke an den Iran. An die Unterstützung von Terror- und Kriegsakten gegen Israel, wie sie jetzt gerade wieder Opfer fordern. – Wie kann das sein, dass es bis heute noch keine Zweistaatenlösung für Israel/Palästina gibt? Fundamentalistische Spielarten der Weltreligionen zeigen, dass es nicht nur positiv war, dass nun Gott zum Gesetzgeber und Autor wurde. Dennoch ist es schon gut, dass nicht der Mensch die Instanz ist, die die Zehn Gebote verantwortet. Es ist Gott, und er klagt ihre Einhaltung ein.

Und es gibt Autorinnen, die schreiben, dass die Zehn Gebote sich im Grunde gar nicht mehr nur an Israel richten, sich nur auf Israel beziehen. Dass die Gebote, so wie sie da stehen, vielmehr universale Moralvisionen sind, in denen sich Gott als der Gott aller Menschen zeigt. Denn die Gebote wollen nicht nur als Regeln unter Brüdern gelten. Mit dem Nächsten ist jeder Mensch gemeint, der mir zum Nächsten wird. So erläuterte Jesus die Gebote. Jesus stand ganz in seiner jüdischen Religion, wenn er zur Umkehr rief und die Menschen zur Nächstenliebe trieb. Denn das Judentum verstand sich als eine Religion der Tat. Judentum bedeutete in alter Zeit neben dem Glauben an den einen Gott vor allem das ganz praktische Einhalten einer Fülle von Geboten und Regeln in Form eines bestimmten, frommen way of life. So schreibt es der jüdische Historiker Geza Vermes. Im Tempel oder in der Synagoge, zuhause oder bei der Arbeit draußen, galt es religiösen Regeln zu folgen. Die Regeln kamen von Gott, wurden aber zuerst von den levitischen Priestern im Sinne von Gottes Barmherzigkeit ausgelegt. Im ersten und zweiten Jahrhundert kam die Laienbewegung der Pharisäer auf, die durch ihr intensives Studium der Gesetze und Gebote eine eigene Auslegungstradition begründeten. Mit ihnen war Jesus oft im Gespräch. Er war ja einer von ihnen. Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels beerbten die Rabbiner die schriftgelehrte Pharisäertradition. (Vermes, Christian Beginnings, S. xvf)

Wichtig für uns heute ist, dass die Gebote immer wieder neu ausgelegt werden müssen. Wir haben an Jesus und an den Schriftgelehrten seiner Zeit die besten Beispiele dafür, dass über den Sinn und die genaue Deutung der Gebote immer wieder neu diskutiert werden muss. (vgl. Schmid/Schröter, Die Entstehung der Bibel, S.129ff) Es geht um Gottes Geist, den Geist der Liebe und Barmherzigkeit. Er will sich auch in den Geboten verwirklichen. Das geht aber nicht mehr, wenn Gebote zum toten Buchstaben erstarren. Wie sollen tote Buchstaben noch zu lebenden Menschen sprechen können?

Und so geht es uns mit der ganzen Bibel. Eben auch mit dem Neuen Testament. Eine starre fundamentalistische Auslegung kann die Menschen heute nicht mehr in die beabsichtigte Freiheit der Kinder Gottes führen. Buchstabentreue führt vielmehr in Elitendenken und subtile Gewaltausübung, Gruppendruck, Konformitätszwang. Es ist das alte Spiel – strenge Buchstabentreue kann sich leicht als Gottes Wille ausgeben. Aber Gottes Wille war es, dass der Mensch lebt und sich in Liebe entfaltet. Nicht, dass er in eine Zwangsjacke von Regeln und Geboten gesteckt wird. Und so kommt es immer wieder darauf an, die alten Texte so auszulegen, wie sie Gottes Schöpferliebe entsprechen und die Bibel so zu lesen, dass man sie am befreienden Geist Jesu misst.

Auch die alte Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium hat ausgedient. Denn die Zehn Gebote und auch die Tora sind Evangelium, gute Botschaft. Diese Texte sind Geschenke Gottes. Paulus und die Rabbinen fassen das ganze jüdische Gesetz in dem einen Gebot der Nächstenliebe zusammen. Und bei den Rabbinen gibt es eine noch größere Zusammenfassung des Gesetzes, das ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen. (vgl. Petzel/Reck, Von Abba bis Zorn Gottes, S.175) Denn wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann beinhaltet diese Aussage schon, dass jeder Mensch auch mein Nächster oder meine Nächste ist. Dadurch wird jede Gebotsauslegung hinfällig, die einzelne Menschen oder Gruppen diskriminieren würde.

Die Zehn Gebote und die jüdische Tora meinen insofern jeden Menschen. – Es gibt niemanden, den Gott von seinem Schalom, von seinem Reich ausschließen will – es sei denn, ein Mensch tut das selbst.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.