Predigt am Buß- und Bettag, 22.11.2023, Pfr. Dr. Theol. Stefan Bauer
angeregt durch Daniel Bourguet, Père, sanctifie-les!, Lyon 2008
Aus dem Tempel tritt ein Mann in einem kostbaren Gewand – mit Goldfäden durchwirkt, mit Edelsteinen besetzt. Er verlässt das von Menschenhand geschaffene Heiligtum und betritt das von Gott geschaffene große Heiligtum der Schöpfung, des wohlgeordneten Kosmos. Sonnenstrahlen brechen sich an dem Geschmeide, das er trägt.
Der Hohepriester breitet seine Arme weit aus. Es ist der gro-ße Augenblick, der Augenblick, den es nur einmal im jüdi-schen Festjahr gibt, der Augenblick, in dem der Nach-komme Aarons den Gottesnamen segnend über dem Volk ausspricht.
Es ist der Höhepunkt des Festkalenders.
Ich lese aus dem 3. Buch Mose, Kap. 16, die Verse 29- 32:
Das soll euch eine ewige Ordnung sein: Am zehnten Tage des siebenten Monats werdet ihr eure Seelen demütigen und fasten; ihr werdet keine Arbeit tun, weder ein Einheimi-scher noch ein Fremdling unter euch. Denn an diesem Tage geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem HERRN. Darum soll es euch ein Sabbat sein, eine Sabbatruhe, und ihr werdet eure Seelen demütigen und fasten. Eine ewige Ordnung sei das. Es soll aber solche Entsühnung schaffen der Priester, den man gesalbt und ihn geweiht hat, seinem Vater im Preisteramt nachzufolgen. Er wird leinene Kleider tragen, heilige Kleider.
Liebe Gemeinde,
als der Tempel noch stand, war der Versöhnungstag der größte Festtag in Israel und ist es bis heute. Es war der Tag des Hohepriesters, traditionell eines Nachkommens Aarons, des Bruders des Mose. An diesem Tag trat er als der heiligste der Israeliten in Aktion. Und wir schauen ihm in unserer Fantasie noch ein wenig zu.
Was tut Aaron am Versöhnungstag? – Es ist genau beschrieben im weiteren Verlauf dieser Bibelstelle. Zuerst muss Aaron für sich selbst ein Sühnopfer darbringen – und zwar das größte von allen Opfern dieses Tages. Der Hohepriester muss sich von seinen Sünden reinigen indem er einen ganzen Ochsen opfert.
Warum muss die heiligste Person im Volk das größte Opfer darbringen, um sich reinzuwaschen?
Klar, denn Aaron hatte sich selbst von Gott abgewandt als er das Volk das Goldene Kalb anbeten ließ. Es war damals Mose, der Gott beschwichtigen musste, den Bund neu zu schließen.
Heilig meint also in der Bibel nicht etwa sündenlos oder tu-gendhaft und gottgefällig, wie wir heute das Wort sehen. Heilig meint einfach nur „ausgesondert“ (qadash), von Gott ausgewählt, ausersehen – und zwar zu einem beson-deren Dienst. Zu dem Dienst des Gebets. Gott wählt und beauftragt Menschen, heilig zu sein. Sie sind beauftragt mit der Fürbitte und dem Segenszuspruch. Offenbar sind Fürbitte und Segnung lebenswichtige religiöse Verrichtungen.
Sie sagen auch etwas über Gott und seine Barmherzigkeit aus.
Und deshalb, liebe Gemeinde, ist der heiligste Israelit, der im Alten Testament vorkommt, der Priester Aaron. Er und seine Nachfolger füllen das Amt des Hohenpriesters aus. Sie haben die Aufgabe, in Fürbitte für das Volk vor Gott zu tre-ten und sich mit Gottes Segen dem Menschen zuzuwenden.
Die besondere Beauftragung zu diesem Vermittlungsdienst drückt sich darin aus, dass nur der Hohepriester das Aller-heiligste betreten darf. Dafür heiligte und bestimmte ihn Gott. Aaron und seine Söhne und alle, die ihm im Amt des Hohepriesters nachfolgten, sie sind Ausgesonderte für den besonderen Dienst, für das besondere Gebet, für die be-sondere Segenshandlung.
Der heiligste Moment für den heiligsten Menschen in Israel, das war der Versöhnungstag, das Fest Jom Kippur.
Ein Nachklang davon ist unser Buß- und Bettag heute.
Aber der Versöhnungstag hat eine ganz andere Qualität und eine viel höhere Bedeutung als unser Buß- und Bettag, der unsere Kirchen nicht annähernd füllt wie z.B. Heiligabend.
Woher diese überragende Bedeutung des Versöhnungstags? Ein jüdisches Leben orientiert sich täglich an den Geboten und Gesetzen Gottes. Der Opferbetrieb am Tem-pel vollzog sich das ganze Jahr über. Es sollte im alten Israel und im Grundverständnis des Judentums eine ständige Wiedergutmachung geben, untereinander und gegenüber Gott. Richter schlichteten Konflikte, Menschen, die aneinander schuldig wurden, suchten den Ausgleich. In allen Geboten aber verfolgt Gott den einen tiefen Sinn – das Leben zu schützen.
Darum geht es im Kern beim höchsten Gebot – Gott zu lieben und die Nächsten wie sich selbst.
Das Judentum ist realistisch, es versteht etwas vom Leben. Es weiß, dass es Sünden gibt, die im Verborgenen geschehen und vielleicht auch im Verborgen bleiben. Sie kann man nicht richten auf Erden. Aber vor Gott.
Und dann gibt es noch eine besonders problematische Art von Sünden. Dass sind die, die ich nicht einmal selbst entdecke. – Heute würden wir sie vielleicht strukturelle Sünde nennen, strukturelle Gewalt, Gewalt, die in den Systemen steckt, mit denen wir die Welt gestalten. Wir partizipieren daran, ob wir wollen oder nicht. – Denn es gibt kein richtiges Leben im Falschen. (Adorno)
Es sind Begriffe wie Lieferketten oder fairer Handel, die uns helfen, zu verstehen, was hinter den Verbraucherpreisen, hinter Handel und Wandel, sich abspielt. Welche Dramen von Lohnsklaverei und Kinderarbeit.
Es ist das, was man Overview Effekt nennt, was die Zu-sammenhänge auf unserem Globus sichtbarer gemacht hat. Die Tatsache, dass Menschen vom Weltall aus auf ih-ren Planeten schauen konnten, hat das Problembewusst-sein geschärft, dass z.B. unser Fleischkonsum vielleicht et-was mit dem fernen Regenwald zu tun hat und dass Klima-veränderungen, die den globalen Süden plagen und Men-schen in die Flucht treiben, anderswo ihre Ursachen haben.
Die Sünden, die man nicht sieht – werden sie weniger? Auch, wenn man heute Vieles wissen kann und es vielleicht nur nicht wissen will – es bleibt wohl immer dieser Rest von Sünden in meinem Leben, die mir unbewusst sind. Luther sprach vom Menschen als simul iustus et peccator – gleichzeitig gerecht und Sünder.
Am jüdischen Versöhnungstag, da ist es wohl heute Brauch, einander zu verzeihen. Aber am Versöhnungstag geht es ursprünglich nicht um Sünden, deren ich mir bewusst bin. Der Versöhnungstag ist für den Rest da. Für die Sünde ge-genüber den Mitmenschen, gegenüber Gott und seiner Schöpfung, die ich in Verstrickung begehe. Als Teil von Sys-temen, als Rädchen im Getriebe einer unerlösten Welt.
Und dann heißt es da – und die Worte werden über alles gesprochen und sie zeigen Gottes großes Erbarmen:
An diesem Tage geschieht eure Entsühnung, dass ihr gereinigt werdet; von allen euren Sünden werdet ihr gereinigt vor dem HERRN.
Kann uns nicht auch der Buß- und Bettag sagen – ja, dir ist vergeben? – Aber nein, er heißt ja Buß- und Bettag – nicht Versöhnungstag.
Und, wie gesagt, so einfach ist es nicht – das Judentum rechnet mit aktiver Buße das ganze Jahr über – und der Versöhnungstag tilgt den Rest. Wenn unser Jahr nur einen Bußtag aufweist – ist das dann nicht ein wenig dünn?
Liebe Gemeinde,
wir tauchen tief ein. Wir haben an der Rolle des Hohepriesters gesehen, dass heilig kein Zustand ohne Sünde ist. Heilig meint eine Aussonderung und besondere Beauftragung, in Demut für die Gemeinde zu beten und den höchsten Segen auf die Gemeinde zu legen, das Volk loszusprechen.
Man kann weiter erfahren: Am Versöhnungstag betrat der Hohepriester das Allerheiligste des Tempels. Aber das Prunkgewand musste er zuvor ablegen, sich am ganzen Körper waschen und einfaches Leinen tragen – denn Gott braucht keinen Prunk. Im Allerheiligsten räucherte er. Und Gott, so die Zusage, werde anwesend sein im Weihrauch, der die innere Zelle mit der Bundeslade füllte.
Rauch über der Lade, so demütig zeigt sich Gott.
Was soll uns Christen das heute interessieren? Ist das nicht alt und fremd und unnötig?
Ich meine nicht. Im Hebräerbrief des Neuen Testaments wird eine Brücke geschlagen vom Versöhnungstag zum Versöhner. – Da ist Christus der Hohepriester (4,14). Denn als er am Kreuz starb, so die Auslegung, betrat auch er symbolisch das Allerheiligste – und der Vorhang im Tempel zerriss.
Er selbst, so die Symbolik, hat das letzte Opfer gebracht und die Versöhnung und Erlösung bewirkt. Denn Christus hat sich noch viel demütiger gemacht als der Hohepriester – er ging nicht in Leinen, sondern nackt.
So habe, so schreibt der Hebräerbrief, Christus als erster und als unser Vorläufer das Allerheiligste betreten (6,20). Und nach den Bildern des Neuen Testaments sind wir nun alle zu Priesterinnen und Priestern geworden. Das meint der Begriff des allgemeinen Priestertums aus dem 1 Petrusbrief.
Aber: Welche Opfer bringen wir dar? Welche Stiere? Welche Böcke? – Christus hat sich den Mächten überlassen – denn er war ohne Gewalt.
Der Hebräerbrief führt aus: Durch ihn lasst uns Gott ohne Unterlass Dankopfer darbringen durch die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. (13,15).
Das also könnten unsere Opfer sein – Bekenntnisse zu diesem Mann am Kreuz, die Frucht unserer Lippen, der Dank und unsere Lieder.
Paulus legt im Römerbrief einen anderen Zugang: Ich bitte euch, Geschwister, im Namen der Barmherzigkeit Gottes, euch selbst als Opfer, die lebendig sind, darzubringen, heilig, angenehm für Gott, das sei euer alltäglicher, logischer Gottesdienst (logike).
Wir selbst als die Opfergabe, unsere Hingabe und Liebe im alltäglichen Leben. Gott lieben und den Nächsten wie dich selbst.
Und auch ein neuer Tempel wird erwähnt, denn der Tempel wurde zerstört. Als er zum ersten Mal zerstört wurde und die Bundeslade verloren ging mitsamt den Tafeln der Gebote, da ließ Gott den Jeremia ausrichten, dass er sein Gesetz nun dem Volk in die Herzen schreiben wird. Der Hebräerbrief nimmt dieses Bild vom Herzen als Tempel, als Ort für Gottes Gegenwart, auf. (Heb 10)
In uns drin, liebe Geschwister, ist nun also das Heiligtum zu finden, in dem Gott anwesend ist und uns losspricht, uns befreit das Gute zu tun, dem Leben zu dienen. Und Hohepriester sind wir alle. Wir sind es, nicht etwa, weil wir ohne Sünde wären. Wir sind es, wenn wir um unsere Fehler vor Gott und den Menschen wissen und um Vergebung bitten – und zwar nicht nur für uns, sondern für alle – so wie Aaron für das Volk bat und Gottes Namen im Segen auf sie legte.
Wir – alle Heilige und Priesterinnen, insofern wir unseren Glauben leben als ernste Einkehr und Ruf zur Umkehr, als fortwährende Fürbitte für unsere Mitmenschen.
Ausgesondert und beauftragt, füreinander zu beten und einander zu segnen. Damit Versöhnung wird. Nach dem Willen des barmherzigen Gottes.
Sein Friede, der höher ist als alle Vernunft …