Predigt zum Volkstrauertag, 19.11.2023, über Matthäus 25,31-46.
Von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer
Christus spricht: 31 Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Liebe Gemeinde, was bringt es eigentlich, mitten im Schneegestöber einem frie-renden Bettler einen halben Mantel zu geben?
Ich stell mir vor, dass der arme in dieser Nacht erfroren ist. Und wer ihn gefunden hat, wunderte sich vielleicht, wie man so leichtsinnig sein kann, mit einem halben Mantel in die Kälte hinauszugehen.
Liebe Gemeinde, bitte verstehen Sie das als Irritation, als Ge-dankenspiel. Wann sind wir dem je gerecht geworden: „Du bist nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet.“?
Denn eigentlich wird der heilige Martin ja so dargestellt, wie es im Gleichnis heißt. – Martin, der einen Nackten kleidet. Und zwar einen, nach dem kein Hahn krähte. Ein Bettler. – Martin half beiläufig, er machte kein Tamtam darum.
Und in der Legende heißt es: Christus soll ihm in dieser Nacht erschienen sein. Und so wurde Martin zum Christen, zum Kriegsdienstverweigerer, zum ersten Klostergründer Europas, zu einem, der sich im Gänsestall versteckte, weil er nicht Bischof sein wollte und der dann, als er Bischof war, vor der Stadt in einfachsten Holzhütten residierte.
Beeindruckend, finde ich.
Martin war, gemäß dem Gleichnis, ein Jünger Jesu gewesen, der tat, was Jesus sich wünschte – der selbstvergessen und hingebungsvoll, ohne eigene Vorteilsgedanken, sich menschlich gezeigt hatte.
Ich habe sehr lange nach einem Beispiel aus meiner Erfahrung gesucht und bin nur auf Martin gekommen.
Denn für mich ist der entscheidende Punkt in diesem Gleichnis, dass es um unbewusste Taten geht. Um die Ahnungslosigkeit, wem man da eigentlich hilft. Um diese Verzauberung der Wirk-lichkeit – dass aus einem bedürftigen Menschen plötzlich Chris-tus selbst wird. Dass Christus sich in den Schwachen sieht, dass er dort wohnt, dass er dort immer wieder Mensch wird. Dort, wo wir nicht gern hinschauen, ist Jesus. Dort, wo wir lieber Ab-stand halten. Dort, wo wir uns nur konfrontieren, wenn wir gar nicht mehr anders können.
Jetzt begehen wir heute den Volkstrauertag. An dem kommt es zu eigenartigen Festakten. Wessen wird da gedacht? Der Siege können wir nicht gedenken – soll ich sagen, zum Glück? Der Helden gedenken wir nicht so wirklich – so hieß der Tag ja früher. Wir gedenken der Opfer der Kriege – der Opfer in Uni-form und der Opfer ohne.
Heute gehen besonders die Bilder von Terror, Krieg und Ge-walt aus Israel und Gaza tief. Der ständig bedrohte Alltag in Israel auf der einen Seite, die hungernden Geflohenen auf der anderen Seite – die zivilen Opfer hier und dort, die jungen Menschen, die Kinder. Unmöglich, diese Bilder auszuklammern aus unseren Sonntagen.
Die Medien müssen daran erinnern, dass es ja auch noch den anderen Krieg gibt in der Ukraine. Und die kritischen Medien, die erinnern auch an die anderen Konflikte in Afrika, im Jemen, in Pakistan. – Die Bilder nehmen uns ein.
Die Kriege nehmen ihren Lauf. Zeitenwenden werden ausgeru-fen. Milliarden fließen in Aufrüstung und Waffenexporte. Gleichzeitig brechen Antisemitismus und Rassismus auf.
Von rechts her wird immer mehr sagbar, wovon wir dachten, dass es im Lauf der Nachkriegsgeschichte in der Versenkung verschwunden ist. Es ist wieder da- oder es kommt wieder.
Achtung jetzt spreche ich ironisch: Wir aber „sind betroffen“. Wir betonen die Unsäglichkeit des Geschehens. Wir sind in Gedanken bei den Opfern. Wir solidarisieren uns. Wir schwenken Ukraine- und Israelflaggen, wahlweise Palästinenserschals.
Aber jetzt mal ehrlich: Wir sitzen in unseren Wohnzimmern!
Wir führen selbst ein völlig unbedrohtes Leben.
Ob wir nicht nur reden, sondern auch handeln, ob wir im Gegensatz zu unseren Großeltern widerstehen würden – das müsste sich erstmal zeigen. Vielleicht, wenn wir öffentliche Verkehrsmittel benutzten? Vielleicht könnten wir dann Zeugin oder Zeuge werden von Rassismus oder übergriffigem Verhal-ten.
Dort vielleicht könnte sich zeigen, ob wir aufstünden, ob wir dazwischengingen, ob wir das meinen, was wir gern und oft sagen. Ich konfrontiere mich am liebsten erst gar nicht damit und fahre Auto.
Aus der Diskussion über den weißen Rassismus habe ich ein neues Wort gelernt: Happyland.
Farbige Menschen, die immer wieder Zurücksetzungen und Demütigungen von der weißen Mehrheitsgesellschaft erleben, spiegeln uns Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft das zurück: Ihr lebt in Happyland!
Von Happyland aus ist gut reden:
Über Gaza und Israel.
Über Russland und China.
Über Gas und Solar- und Windenergie.
Über CO2-Reduktion. Und wenn ja, wie viel.
Über Artensterben und Unkrautvernichter.
Über das, was sein soll und das, was „bei uns keinen Platz hat“ dann aber doch stattfindet. Von Happyland aus ist gut reden.
Da kann alles gesagt werden, erwogen werden. Zurückge-lehnt wahlweise im Ohrensessel, auf der Couch, am Stamm-tisch, im Netz oder auf der Kirchenbank.
Vielleicht ist es aber gar nicht Happyland, das uns vom Beispiel des Gleichnisses entfernt, vom spontanen, selbstvergessenen Helfen. Vielleicht ist es auch das Gefühl großer Ohnmacht an-gesichts der globalen Zusammenhänge, angesichts unseres zu Zuschauenden-Verurteiltseins.
Liebe Gemeinde,
ich fühle mich auch genau dazwischen – zwischen Ohnmacht und Wut über die Verhältnisse und dem Rückzug ins Hap-pyland, in den scheinbar schützenden Kokon.
Aber was soll aus der Hoffnung werden? Im Gleichnis geht es doch um eine gerechte Zukunft! Und so möchte ich im letzten Teil der Predigt auf den Mann blicken, der dort oben an unserem Wandkreuz thront – das ist der Menschensohn. Das ist der König aus dem Gleichnis.
Das ist einer, der zum Glück mit anderem Maß misst. Und das ist meine Hoffnung.
Der König auf dem Thron, der Menschensohn, er fordert am Tag des Gerichts gar nicht, was wir denken. Er fordert nicht, dass wir auf die Straße gehen und Fahnen schwenken. Er fordert nicht, dass wir bedingungslos Partei ergreifen. Er fordert nicht einmal, dass wir der Diakonie und Brot für die Welt und der Katastrophenhilfe Geld spenden.
Er fordert, dass wir Menschen sind.
Er fordert keine Sonntagsreden, sondern den geteilten Mantel. Er fordert, dass unser Herz schlägt.
Natürlich sollen wir ihn hören und anbeten und wachsam sein – das symbolisieren die drei anderen Plaketten am Wandkreuz. Vor allem aber sollen wir ein Herz haben, das schlägt. Wer ein Herz hat für den Mann am Kreuz, der oder die wird die richtigen Entscheidungen im richtigen Moment treffen.
Aus dem Herzen handeln, auch wenn die Vernunft keinen Sinn findet, wenn alle Prognosen entgegenstehen, wenns für uns gefährlich wird, wenn Erfolg fraglich ist, wenn wir drohen uns lächerlich zu machen und jede Erfahrung uns widerspricht.
Nur aus dem Herzen handeln macht einen Unterschied!
Denn der Friede Gottes ist höher als alle Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.