Vorweg trauern?

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Predigt zum Sonntag Exaudi von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer
Stiftskirche und Matthäuskirche Landau

Johannes 16,5-18; Christus spricht:
Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin? Doch weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden. Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.
Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in aller Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er nimmt es von dem Meinen und wird es euch verkündigen.
Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater?

Liebe Gemeinde,
kann man Trauer vorwegnehmen? – Ich glaube nicht.
Vielleicht spürt man es kommen, wenn der Abschied von einem nahen Menschen näherrückt. Sicher spürt man das. Aber ich meine, das ist dann noch keine Trauer. Nicht im Vorhinein. Die Trauer schlägt zu, wenn das Loslassenmüssen vollzogen ist. Die Trauer schlägt zu, wenn ein Mensch dann einfach nicht mehr da ist – nicht mehr bei uns Lebenden. Weggenommen aus der Sphäre des Lebens, wie wir es in den Knochen spüren – in der Jugend mit Freude, im Alter mit Schmerzen.

Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.

– So ergeht es uns, wie es im Psalm heißt. Der Tod nimmt die vor uns weg. Vor drei Jahren war es meine Mutter. Vergangenes Jahr die Mutter meiner Frau. Jetzt gibt es Muttertagsblumen nur noch auf Gräbern. Dieses Jahr ist mein Vater gestorben. Vorweggenommene Trauer erlebte ich nicht. Traurigkeit über sein Älterwerden, ja. Ich war wehmütig. Ich hörte ihn sagen, dass es ja eigentlich jetzt gut wäre, mit dem Leben. Ich hörte ihn von seiner Ratlosigkeit sprechen, wie das dann nur konkret gehen könnte mit dem Sterben. Es ging dann gut für ihn. Es war ein aktives Loslassen seinerseits. Es war sein Wunsch. Und er ging ohne Schmerzen. Aber Trauer kann man nicht vorwegnehmen, meine ich. Und die Trauer über meine Eltern ist nochmal etwas Eigenes: Was meine Eltern für mich waren, ist ja sonst niemand und kann sonst niemand für mich sein.

Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf.

Wenn ich das doch so sagen könnte! – Jedenfalls habe ich jetzt einen neuen Zugang dazu gefunden, dass Jesus zu Gott „Vater“ sagte.
Es fehlt für mich jetzt der annehmende, sorgende und liebende Blick meiner Eltern. – Vielleicht springt ja Gott ein als Vater, als Mutter? – Jesus vermittelt mir diese Geborgenheit. – Gott ist jetzt für mich da.

Jesus, den Tod vor Augen, wird im Johannesevangelium als einer gezeichnet, der sich ausführlich verabschiedet. Er nimmt sich Zeit, hält Abschiedsreden. Sie sind wie ein kleines gesprochenes und aufnotiertes Testament – sein Vermächtnis an die Freunde.
Zeichen und Wunder hatten die Jüngerinnen und Jünger um ihn geschehen sehen. Sie hatten die Nähe des Reichs Gottes gespürt. Sie begannen, in ihm den Messias, den Christus zu erkennen. Petrus war der, der das zuerst ausgesprochen hatte. Immer mehr Hoffnungen hatten sich an Jesus geheftet.
Und dann diese Ankündigungen seines Todes in Abschiedsreden. „Weil ich dies zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer“. – Jesus möchte sie vorbereiten darauf, was die Trauer mit ihnen machen wird.
Ich glaube es nicht, dass das geht. Trauer vorwegnehmen. Deshalb vermute ich, dass Jesus mit dem Versuch, die Trauer der Jünger vorzubereiten und vielleicht auch abzumildern, nicht erfolgreich war. – Es wird sie geschüttelt haben, wieder und wieder, aber erst als er dann gestorben war. Als er ihnen genommen war.

Wenn nun aber die Jünger zwar traurig waren wegen Jesu Reden, und die Trauer vermutlich nicht vorweggenommen werden konnte, dann meine ich, die Abschiedsreden Jesu stehen mehr für uns da im Johannesevangelium. Sie sind mehr für uns aufgeschrieben worden, als für die Jünger. Denn eigentlich erschließen sich diese Abschiedsreden erst im Rückblick – dass Jesus eben doch der Christus ist und dass sein Reich bleibend da ist, und doch nicht da ist. Dass es aber sichtbar und Alles in Allem sein wird. Dass es aber noch eine kleine Weile dauern wird, bis er, Jesus, erneut erscheint. Der Himmel liegt vor uns. Dass er uns in der Zwischenzeit aber nicht allein lässt. Der Geist hilft uns. Nach Jesu Ermordung sahen sich die Jüngerinnen und Jünger vor die Wahl gestellt:

Hätten sie, wie bisher gewohnt, auch weiterhin an die Wiederkunft des Messias als eines neuen David geglaubt, dann wäre diese Hoffnung jetzt komplett zerstört gewesen. – Denn nach jüdischer Vorstellung war das Reich des Messias ein greifbares, real existierendes, die Welt umspannendes Reich, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Mit dem Tod dessen, der Zeichen und Wunder getan hatte, wie es nur der Messias konnte, wäre alles in Depression zusammengestürzt – jede Hoffnung der Jünger wäre dahin gewesen.

Und so blieb nur ein Weg: die Hoffnung radikal neu zu interpretieren. Und so zeigt uns das Johannesevangelium in den Abschiedsreden einen Jesus, der selbst noch diese notwendige Uminterpretation vorbereitet. Jesus sagt da: Gerade, weil ich weiß, dass mich die Welt umbringen wird, gerade deshalb bin ich der Christus, der Messias. Und so interpretiert Jesus den Christus-Messias um. Vom strahlenden Sieger und gerechten König – zum Gehängten, zum Bruder der Ärmsten und Erbärmlichsten.

An dieser Umdeutung des Messias trennten sich dann die Wege zwischen Judentum und Christentum. Diese Trennung war zum Zeitpunkt der Abfassung des Johannesevangeliums bereits schmerzhaft geschehen.

Aber wir bekommen noch mehr Umdeutung: Gewohnt sind wir Glaube, Hoffnung und Liebe. Wir sind diese drei von Paulus gewohnt – „aber die Liebe ist die größte unter ihnen!“

Die johanneische Gemeinde legt uns hier drei andere Worte vor:
Sünde, Gerechtigkeit und Gericht. Denn es geht ihm um Neuinterpretation, um Umwertung im Paradox des Kreuzes. Deshalb wählt der johanneische Jesus hier drei Schlüsselworte seiner jüdischen Religion, die er uns auslegt. Sünde, Gerechtigkeit und Gericht. Über diese drei, so Jesus, wird der Geist uns die Augen öffnen.

Aber Sünde ist hier in Jesu Worten nicht mehr so thematisiert, wie im Alten Bund: nicht mehr als Abwendung vom Bund mit Gott, nicht mehr als Untreue Israels gegenüber Jahwe, nicht mehr als Sündenfall Adams. Jesus sagt: „Die Sünde ist: Dass sie nicht an mich glauben.“ Ihm nicht glauben, weil er am Kreuz hängt. Ihm nichts zutrauen, weil er anscheinend schwach war und getötet wurde. Jesus aber sagt: Ihr könnt mir alles zutrauen! Ich verwandle sogar eure Trauer in Hoffnung – weil ich am Kreuz den Tod überwand.

Gerechtigkeit“, sagt Jesus, ist, „dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;“ Gerechtigkeit meint hier nicht den endzeitlichen Schalom für alle Welt. Jesus zeigt am Kreuz eine neue Gerechtigkeit. Dass der, der den Tod am wenigstens verdiente, auch nicht im Tod bleibt, sondern zum Vater geht und dort zur Rechten thront und wiederkommt. Das ist gerecht! – Das soll all denen, die ihn jetzt nicht mehr sehen können ein Zeichen der Gerechtigkeit sein, wie Gott sie will: Die Opfer werden die Sieger sein!

Und die letzte große Neuinterpretation: „Das Gericht, das ist, dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“ Das Gericht ist kein Damoklesschwert, das über unserem unvollkommenen Erdenleben schwebt und droht. Wie so ein Bilanzstrich unter unserem Leben. Das Gericht, das Jesus hier verkündet ist ein Befreiungsschlag für uns und für alle, denn der Fürst dieser Welt ist gerichtet, verurteilt, entmachtet! – Die Rettung – sie ist schon erfolgt. Es ist alles gut. Wenn es auch noch eine kleine Weile geht, wenn mit dem stillen Wachsen des Reiches Gottes auch die Macht des Bösen stärker und zerstörerischer wird: – Entscheidend ist, dass das Urteil schon gesprochen und das Böse schon besiegt ist. Befreiung!

Liebe Gemeinde, da kommen wir jetzt doch langsam an das kleine Pfingstfest heran, wie man den heutigen Sonntag auch nennt. Mitten in unsere Trauer hinein hält Jesus seine Abschiedsrede. Und er hat Verständnis für die Trauer jetzt. Doch dann dieses „Es ist gut für euch, dass ich weggehe.“ – Warum? – Damit wir verstehen, dass neben der Trauer Platz ist für enorme Freude! Es lohnt sich, zu vertrauen, auch wenn wir nichts begreifen und alles paradox erscheint – Marter, Kreuz, Tod des Messias. Es hat seinen tiefen Sinn und der ist so tief, tiefer als jede Trauer, die uns erwischen kann! Wir haben einen Beistand, einen Fürsprecher, einen Anwalt, der uns herauszieht aus dem Trauerloch. – Nicht, dass die Trauer nicht sein soll! Nicht, dass die Trauer etwas zu Überwindendes wäre, ein Loch, das man irgendwie zuschütten muss! – Nein! – Trauer geht ein Leben lang mit. Man kann sie zukleistern – aber sie geht nicht weg, weil sie mitgeht. Weil so das Leben ist – voller Abschiede, die schmerzen.

Und doch zieht uns der Geist, den Jesus verspricht, aus dem anderen Trauerloch, das uns eine Sinnlosigkeit von allem einreden will. – So nicht! Es hatte und es hat alles seinen Sinn. Sogar Jesu Tod am Kreuz hatte seinen Sinn, damit wir nicht mehr von Siegen träumen, sondern uns endlich der Opfern annehmen und das Leid wenden!
Weil ihnen die Verheißung gilt, die Gerechtigkeit!

Und deshalb bringt der Geist nicht das, was wir sonst unter Trost verstehen – das Zukleistern der Trauer mit Allgemeinplätzen. Der einzige echte Tröster, der Geist, den Jesus verheißt, der tröstet deshalb, weil er uns zeigt, dass der Tod besiegt ist – samt allen Mächten, die mit ihm paktieren. Das Leben siegt! Eine kleine Weile noch! Lasst euch nicht vom „altbösen Feind“ täuschen, sagt dieser Tröster: Nichts ist vergebens! Der Richtspruch ist gefällt! Exaudi – Erhöre uns, Gott! Gieß wieder aus diesen Geist der Wahrheit, den Tröster, der uns inmitten der Trauer ins himmlische Leben lockt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft …