Wie ich den evangelisch-christlichen Glauben verstehe
von Pfarrer Dr. theol. Stefan Bauer, August 2024
In den biblischen Schriften ist eine Geschichtsdeutung festgehalten, die den Menschen im Gegenüber zu einer transzendenten Macht sieht. Wendungen der Geschichte werden als Eingriffe dieser lebendigen Macht interpretiert. Streift man alle zeitbedingten Gottes-Bilder ab, so bleibt als Kern dieser Machterfahrung das Lebendige, Lebenschaffende, Rettende, Heilende. Jüdisch-christlicher Glaube ist getragen von der umfassenden Hoffnung auf den Sieg des Lebens über alles Todbringende und Lebensfeindliche.
Die jüdische Bibel (Tenach, Altes Testament) legt der Weltgeschichte einen Bundesschluss Gottes mit seinem Volk Israel zugrunde. Zu diesem Bund gehört die Einhaltung grundlegender Gebote, die im Kern das Leben schützen sollen. Die Befolgung von Gottes Geboten und seiner Weisung wird in der Geschichte Israels als Befreiung gedeutet. Am Ende der Zeiten, so die jüdische Prophetie, wird Gott einen gerechten Frieden (Schalom) auf Erden errichten.
Die christliche Bibel (Altes und Neues Testament) sieht in Jesus den einzigartigen Menschen, der vollkommen mit der lebendigen Gotteskraft in Übereinstimmung ist. An seinen Worten und Taten kann daher der Wille Gottes (bzw. das lebensbejahende Prinzip) abgelesen werden. Die Gesetzesauslegung, Lehre und Zeichenhandlungen Jesu stellen den Menschen in den Mittelpunkt. Das erreicht Jesus durch seine besondere Aufmerksamkeit für geplagte Menschen am Rand der Gesellschaft. Jesus ruft in die Nachfolge dieses menschen- und lebensfreundlichen Wandels (Lebensstils). Ähnlich wie im Alten Testament wird dieser Impuls als Befreiung von Todesmächten erlebt und interpretiert.
Mit der Umformung des Glaubens in eine Organisation, die Kirche, begann auch die Geschichte ihrer Korrumpierung. Kirchen wurden und werden als Machtinstrumente und Institutionen der Disziplinierung und Unterdrückung missbraucht.
Parallel dazu gab es zu allen Zeiten Unterströmungen, die den Befreiungsgedanken jeweils in ihren Zeitverhältnissen umzusetzen versuchten in mystischen, asketischen und diakonischen Bewegungen und im politischen Widerstand.
Die protestantisch-evangelischen Kirchen berufen sich auf die Reformation im 16. Jahrhundert. Ihr stärkstes Unterscheidungsmerkmal zum römisch-katholischen Glauben ist, dass sie kein Weiheamt kennt. Es gibt also generell keine Hierarchie (weder vor Gott noch unter den Menschen) zwischen den beauftragten Lehr- und Pfarrpersonen und den anderen Gläubigen. Die christlichen Festzeiten dienen dem In-Kontakt-Bleiben mit dem befreienden Wort (Evangelium; biblische Tradition). Kirchendogmatische Festlegungen und Formulierungen vergangener Jahrhunderte sind von historischem Wert. Die heutige Zeit muss zu ihren eigenen Zugängen und Formulierungen finden.
Zu einem evangelisch-christlichen Leben gehört die Teilnahme an Gottesdiensten und Gemeinschaft und ein christlicher Lebenswandel in der Nachfolge von und in Liebe zu Jesus: Eintreten für Entrechtete und Marginalisierte und Einsatz für lebensdienliche und lebensfördernde Verhältnisse im direkten Umfeld und in der Welt.
Dieser Idealzustand einer christlichen Gemeinde ist nur selten zu finden und immer im Begriff, erneut korrumpiert, für Partialinteressen missbraucht oder verwässert zu werden. Die Kirche muss immer wieder reformiert werden.