Predigt im Gottesdienst am Ewigkeitssonntag mit Gedenken der Verstorbenen, 24.11.2024, Dr. theol. Stefan Bauer
2 Petrus, 3,13
Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach Gottes Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
Liebe Gemeinde, liebe Trauernde,
wie muss der Boden sein, auf dem die Pflanze Hoffnung wachsen kann? Irgendwie hoffen wir ja immer. – Wir hängen uns an jeden Strohhalm. Hoffen bis zum letzten Augenblick. “Die Hoffnung stirbt zuletzt.” sagen viele. Obwohl ich eher denke: “Der Mensch stirbt zuletzt.”
Manche sogenannte Realisten meinen eher „Hoffen und Harren hält manchen zum Narren“. Das liegt so auf der Linie von Helmut Schmidts Bonmot: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen!“
Aber was, liebe Gemeinde, ist das Leben ohne Hoffnung? Wir hoffen für unsere Kinder, dass sich die Kriege nicht noch weiter ausbreiten. Wir hoffen für diese Erde, dass sie weiterhin Lebensgrundlage sein kann für die Menschheit und für alles, was lebt. Unsere verstorbenen Angehörigen hofften vermutlich bis zuletzt für uns. Und wir hofften für unsere sterbenden Angehörigen die letzte große Hoffnung: auf den neuen Himmel und die neue Erde nach Gottes Verheißung.
Glaube, Hoffnung, Liebe – der Apostel Paulus nannte die Liebe die größte unter diesen drei. Ja, die Liebe war entscheidend wichtig als wir unsere Angehörigen auf dem letzten Weg begleiteten. Aber die Hoffnung finde ich angesichts des Todes noch wichtiger, weil der Moment kommt, wo ich nichts mehr tun kann, wo meine Liebe nicht mehr ankommt, nicht mehr weiterhelfen kann, wenn der letzte Schritt bevorsteht. Und dann trägt allein diese Hoffnung auf den neuen Himmel und die neue Erde nach Gottes Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
Hoffnung wächst auf dem Vertrauen in Gott. Wenn sie darin wurzelt, dann wird sie zu der starken grünen Pflanze, die ihre Frucht trägt, die Liebe.
Er ist jung, als er seinen Stellungsbefehl in der Hand hält. Gerade hat er sich verliebt. Die junge Liebe macht sein Herz leicht und sein Leben reich und weit. Er weiß, sie ist die Liebe seines Lebens. Sie beide träumen von einer gemeinsamen Zukunft, von Kindern, vom gemeinsamen Leben im Glück; beide sind von Hoffnung erfüllt.
Da kommt der Befehl, der ihn in den Krieg führt. Er führt ihn in eine Welt, in der weder Hoffnung noch Liebe noch Platz haben, in der der Glaube an den barmherzigen Gott auf eine harte Probe gestellt wird.
Sicher, es gibt auch dort Hoffnung, es scheint immer und überall Hoffnung zu geben – z.B. die Hoffnung auf Sieg. Anfängliche militärische Erfolge verbreiten gute Stimmung unter den Soldaten. – Aber ihre Wirklichkeit sieht so aus, dass sie täglich immer und immer wieder ihr Leben riskieren müssen, ständig sind sie bedroht, jeder Einsatz könnte der letzte sein und ist für viele der letzte – der gewaltsame, schreckliche Tod und die Verwundung von Menschen wird zum täglichen Begleiter. Ein Leben am Abgrund, den Blick angezogen von einer schwarzen, bodenlosen Tiefe.
Eine Zeit-Journalistin, die gerade von der Front in der Ukraine zurück ist, hat davon berichtet: Wohl wissen die Soldatinnen und Soldaten noch, wofür sie kämpfen. Aber die Hoffnung auf einen Sieg ist am Erlöschen.
Wenn die Verzweiflung um sich greift, dann werden wieder die sogenannten Realisten lauter. Sie sehen nur noch, was ist: Die Niederlagen, die Gräber, die Zerstörung. Menschen können sich in das Böse ihrer Zeit verlieren und zynisch werden. Galgenhumor – gegenüber dem, was einmal die eigene Hoffnung war.
Verzweiflung ist ein Boden, auf dem die Pflanze Hoffnung nur sehr bescheiden oder gar nicht wächst. Nur ein schwaches Pflänzchen kämpft sich auch da noch ans Licht: Das ist die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach zu Hause, nach der Geliebten, die Sehnsucht nach heilem Leben. Ist schließlich auch sie, die Sehnsucht, begraben, weil sie ja immer und immer wieder enttäuscht wird, dann verlieren Menschen ihren Glauben – den an eine bessere Zukunft, den an die Menschlichkeit, den an einen Gott, der sie liebt. Dann kann man irgendwann auch über Leichen gehen.
So weit kommt es bei ihm zum Glück nicht. Bei ihm ist es anders. Er kann sich seine Sehnsucht bewahren. Um ihn herum tobt der Krieg, die Welt ist aus ihren Fugen geraten, die Menschen verrohen, und die Worte Hoffnung und Liebe scheinen aus dem Wörterbuch gestrichen; aber, genährt von Sehnsucht, trägt er trotzdem den Glauben an die bessere Welt in sich und lässt ihn sich nicht nehmen.
Er will den Gedanken nicht zulassen, dass Gott seine Welt aus der Hand gegeben haben könnte. Er will es sich nicht nehmen lassen, dass bessere Zeiten kommen. Zeiten des Friedens und des Glücks. Zeiten, in der er endlich mit der Liebe seines Lebens diese Liebe auch leben kann.
Er glaubt gegen jeden Augenschein. Seine Hoffnung trägt ihn durch alles Widrige. Mitten in der dunklen Welt glimmt ein Funke Hoffnung. Mitten in der Welt des Todes sieht er das Leben. In einer Welt, in der der Teufel los ist, kann er glauben, dass Gott da ist.
Von zu Hause hat er das. Von seinen Eltern. Sie hatten es ihm vorgelebt und es hat sich ihm tief eingeprägt. Es ist Teil seines Lebens geworden. Und jetzt trägt ihn das durch diese Zeit. Es bewahrt ihn davor zu resignieren; bewahrt ihn davor, sein Leben aus Verzweiflung aufs Spiel zu setzen oder wegzuwerfen. Die Hoffnung hält ihn hellwach und lässt weder Angst und Panik noch den blinden Mut der Verzweiflung die Oberhand gewinnen.
Er kommt tatsächlich nach Haus. Er kann ein neues Leben beginnen. Die Schatten des Krieges legen sich nicht über seine Seele. Er lebt auf. Er findet die Geliebte, sie findet ihn. Er findet Arbeit. Sie werden Familie. Er ist voller Dankbarkeit. Gott hat ihm die Kraft gegeben, das durchzustehen. – Noch tiefer reichen jetzt die Wurzeln des Vertrauens, die seine Hoffnungspflanze halten. Er dankt Gott dafür, dass seine Sehnsucht, die Erfahrung, geliebt zu sein, hindurchgetragen hat. Die Hoffnung auf ein besseres Leben und auf eine bessere Welt. Sein Glaube war ihm der Boden, auf dem seine Hoffnung gedieh. Ein neuer Himmel, eine neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt.
Jahre vergehen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Das Leben nimmt seinen Lauf. Seine Frau wird krank. Es stellt sich heraus: unheilbar krank. Sie muss gepflegt werden. Er kümmert sich aufopferungsvoll um sie und ist rührend darum bemüht, es ihr unter ihren Umständen so leicht wie möglich zu machen. Sie ist der Grund seiner Sehnsucht, die ihn im Krieg gerettet hat. Sie ist die, die er wiederfand. Gemeinsam sind sie durch die Zeiten gegangen, sind Eltern geworden. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Die Bilder vergangener glücklicher Tage sind unauslöschlich in seine Seele gemalt. Sie leben in ihm und er lebt von ihnen, während sie körperlich wie geistig verfällt.
Zu Beginn der Krankheit sind sie beide von der Hoffnung auf Besserung erfüllt; aber sie haben bald akzeptieren müssen, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen wird. Er hat damit gerungen, das anzunehmen, aber er hat trotzdem nicht resigniert. Jetzt galt seine Hoffnung seiner Frau. Da war genug, was er für seine Frau hoffen konnte und sich nicht der Verzweiflung überlassen; da war sein Glaube davor. Darin wurzelte seine Hoffnung so tief, dass er immer wusste: Wenn auch Himmel und Erde vergehen, Gott wird sie neu schaffen – und seine Frau wird dazugehören. – Er glaubt es einfach und er glaubt es tief. Und dieser Glaube ist der Boden, auf dem seine Hoffnung gedeiht.
Die Erschöpfung nach den Jahren der Pflege nimmt ihm keiner ab. Auch nicht den Schmerz. Trauer überkommt ihn immer wieder. So viele Erinnerungen begleiten ihn und machen ihn abwechselnd traurig und glücklich.
Aber im Kern seines Glaubens ist Jesus, der Auferstandene, der, der schon den neuen Himmel bewohnt und die neue Erde, in denen auch Gottes Gerechtigkeit wohnt.
Und seine Hoffnung ist groß, weil er weiß, dass die Sehnsucht ihn schon einmal gerettet hat, weil er weiß, dass die Hoffnungspflanze stark genug war, Früchte der Liebe zu bringen.
Seine Kinder begleiten ihn ins Krankenhaus. Zusätzlich zu seinem Oberschenkelhalsbruch musste er jetzt auch noch an der Niere operiert werden. Doch auch danach: Die Antibiotika in seinem Körper werden nicht mehr abgebaut. Nierenversagen.
Er möchte sterben, er hat keine Angst davor. Nur vor den Schmerzen. Er hat seine Hoffnung, die Sehnsucht, wie damals – heimzukehren, nur neu eben – und dennoch nach Haus.
Seine Kinder sitzen an seinem Bett und halten seine Hände als der Arzt die Infusionen abstellt. Es bleiben nur wenige Minuten, in denen er sich an vergangenes Glück erinnert. Dann gleitet er in Schlaf. Seine Tochter summt eine Melodie, die er mochte, bis die Atmung kleiner wird und endet.
Loslassen im Vertrauen. Die starke grüne Pflanze der Hoffnung spüren, den Duft ihrer Früchte dankbar in Erinnerung: all die Liebe, die war.
„Hoffen und Harren hält manchen zum Narren“. Das mag sein. Aber ein Narr Gottes sein, ist gar nicht so schlecht. Ein Narr Gottes, der darauf hofft und baut, dass Gott Himmel und Erde neu machen wird. Einen Himmel und e. Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.