Predigt von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer
Trinitatis 2025, Matthäuskirche Landau
2 Korinther 13,11-13
Paulus schreibt:
11 Zuletzt, Brüder und Schwestern, freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen, habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. 12 Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Heiligen. 13 Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!
Ach ja, liebe Gemeinde, wann darf man schon mal über das Küssen predigen!
Ich tue es in meinen 32 aktiven Dienstjahren zum ersten Mal.
Paulus wünscht sich am Ende des 2. Korintherbriefs, dass die tief gespaltenen und zerstrittenen Christinnen und Christen in Korinth einander wieder so verbunden sind, dass sie einander auch küssen können.
Da gibt es nichts herumzudeuten. Küssen ist selbsterklärend: Dabei geht es um die leibliche Annahme des Gegenübers. Es geht um körperliche Nähe, um rückhaltlose Distanzüberwindung. Es geht um Liebe.
Ich meine, das ist bei allen Küssen letztlich der Fall. Sogar bei Judasküssen und sozialistischen Bruder-Zungenküssen wie damals bei Honecker und Breschnjew.
Und, ach ja, wie doch die alten Griechen sich bemüht haben, hier fein zu unterscheiden zwischen Eros und Agape und Philia. Ein Wort in drei Bedeutungen seziert, als wäre eins jeweils vom anderen sauber zu trennen. Das ist letztlich Humbug, ein Feld mit fließenden Übergängen, das überhaupt nicht eindeutig zu trennen ist.
Unter evangelisch.de ist heute noch zu lesen, ja, Agape, das sei Hingabe, Eros, das sei Verlangen, Philia, die freundschaftliche Verbundenheit. Entschuldigung, aber wenn Paulus wünscht, dass seine Christen einander küssen, dann küsst man doch nicht wegen der Hingabe. Küssen ist doch ein Sich-so-nahe-Kommen, dass es gar nicht un-erotisch sein kann, und, ja, da muss schon eine Freundschaft, eine philia, sein – und zwar eine körperlich empfundene Freundschaft und Nähe. Kuss ist Kuss, also etwas Körperliches. Da kann man schlecht dran herumdeuteln um das, was man inzwischen als schlüpfrig daran empfindet, wegzuargumentieren.
Am Anfang haben sich die Menschen in den christlichen Gemeinden offenbar geküsst – und zwar nicht nur im Gottesdienst – der war ja auch nicht so sauber vom übrigen Leben getrennt, wie heute. Die Christen haben sich sogar öffentlich, auf der Straße mit einem Kuss begrüßt – und zwar wie es im Galaterbrief heißt: Egal, ob Mann undr Frau, Mann und Mann, Sklave und Herr. Die haben sich, wenn nicht gerade die Todesstrafe auf Christ-Sein stand, in der Antike öffentlich geküsst. Die haben sich also sichtbar gemacht. Die haben gezeigt: Bei uns herrschen nicht die bürgerlichen Konventionen. Bei uns geht’s rund. Bei uns weht der Geist!
Es war die Leibfeindlichkeit, die sich in den Kirchen entwickelte, die das Küssen zurückgedrängt hat. Und ich frage mich, was dadurch verloren gegangen ist.
Denn der christliche Kuss, er war über Jahrhunderte üblich. Wir lesen nicht nur im 2. Korintherbrief, sondern auch im 1. Korinther, im 1. Thessalonicher, im Römer und im 1. Petrusbrief von dieser Praxis des heiligen Kusses, des Kusses der Liebe und des Friedens, wie es in 1 Petrus 5,14 heißt. Bei dem Kirchenvater Justin der Märtyrer ist der Friedenskuss der Gläubigen Bestandteil der Messliturgie und findet vor der Gabenbereitung statt. Das war um das Jahr 150. Auch aus dem 3. Jahrhundert sind Messordnungen mit Friedenskuss bekannt.
Küssen war also die ursprüngliche Form des Friedenszeichens vor der Eucharistiefeier. Wir haben es durch Händedruck ersetzt. Das macht in Nach-Corona-Zeiten auch Sinn. Da muss man sogar mit Händedrucken manchmal zurückhaltend sein. Aber, wie gesagt, die Kirche hat andere Zeiten gesehen. Und der Kuss benennt daher einen Anspruch an christlicher Intimität, Nähe und Vertrautheit. Was machen wir mit diesem Anspruch?
Auch, wenn wir heute nicht mehr küssen wollen, kommen wir doch an diesem Anspruch nicht vorbei! Der Anspruch des Einander-Annehmens, der tiefen Vertrautheit, des Geschwister-Seins in Christus.
In der Geschichte der Liturgie wurde das Küssen mehr und mehr, sagen wir, sublimiert. Es wurde unkörperlich. Aber es ist nicht so, dass nicht mehr kirchlich geküsst wird.
Ich kenne es aus der griechisch-orthodoxen Kirche, wo Ikonen geküsst werden – die Ikone des Christus im Grab am Karfreitag. Alle Gläubigen gehen zu einem stilisierten Grab Christi, das wie ein kleiner Holztempel aussieht, und küssen die Ikone darin. Manche hauchen liebe3r nur, viele küssen die Glasscheibe, die die Ikone bedeckt. Ab und zu kommt ein Messdiener und desinfiziert die Scheibe.
In unserer katholischen Schwesterkirche küsst der Priester seine Stola ehe er sie umlegt. Vor und nach der Eucharistie wird der Altar geküsst. Und auch das Evangeliar, in dem die vier kanonischen Evangelien enthalten sind, wird geküsst. Alle diese Küsse beziehen sich auf Christus. Er wird im Altar, in den Evangelien verehrt. Und der Priester tut seinen Dienst in seinem Namen. Der Kuss, den wir einander schulden, der kommt da her: Es ist der Kuss, den wir eigentlich Jesus geben wollen. Das bringen die liturgischen Gesten der Orthodoxen und der Katholiken noch schön zum Ausdruck.
Jesus wurde geküsst – vielleicht nicht nur von Judas, vielleicht nicht nur von der Sünderin, die seine Füße küsste am Gründonnerstag.
Im apokryphen Philippus-Evangelium, einer sehr rätselhaften Textsammlung aus dem 2. Jahrhundert ist zu lesen: „Der irdische Erlöser liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger. Er küsste sie oft auf ihren Mund.“ (55)
Wir denken an Liebe zwischen den beiden. Und wir denken vielleicht nicht falsch.
Aber gemeint ist hier etwas Anderes. Gemeint ist eine geistliche Liebe, die aber nichtsdestoweniger körperlichen Ausdruck findet. Im Logion 31 dieses Philippus-Evangeliums steht dazu: „Die Vollkommenen werden durch einen Kuss schwanger und gebären. Deswegen küssen wir einander. Wir werden schwanger durch die Gnade, die in dem jeweils anderen ist.“
Ich meine, es ist eine Form von Liebe, dass der Eine die Gnade, also das Charisma des Anderen braucht, um fruchtbar zu sein, um ein erfülltes Leben zu haben. Wie zwei Partner eben, die für sich allein sich nicht mehr vollständig fühlen. So brauchen wir die Gaben von allen, die heute hier sind und allen, die heute nicht hier sind.
Sie kennen das Bild schon aus vielen Predigten von mir: Der Leib ist nicht vollständig, wenn Organe und Glieder fehlen. Wir werden erst in unserer größtmöglichen Vielfalt zu Christi Leib und Gemeinde.
Das Thema Küssen zeigt an: Da ist eine Liebesgeschichte im Gange – eine zu Jesus: Wenn man nicht zu ihm in Liebe entbrennt, dann hält der Glaube nicht viel aus.
Und es ist eine Liebesgeschichte unter den Christen selbst im Gange, weil sie in ihre gegenseitigen Charismen verknallt sind. Denn nur durch sie werden wir komplett.
Liebe Gemeinde, unsere bürgerlichen Vorstellungen werden durch die alten Texte, durch die alten Bräuche ganz schön strapaziert. Küssen verboten – außer exklusiv, am besten in der Ehe oder im engen Familienkreis.
Körperlichkeit überhaupt wird nur in Zerrbildern akzeptiert – Germanys next Topmodell, millionenteure Körper-Sportmaschinen im Fußball und all die anderen Körper-Stilisierungen, die uns umgeben und am anderen Ende des Spektrums The Biggest Loser, der willenlose Körper, der bekämpft und besiegt werden muss.
Aber der wirkliche Leib, nicht der virtuelle, ge-photoshoppte, sondern der anwesende, atmende, stoffwechselnde Leib, der bleibt doch bitte außen vor! – Bitte nicht zu nah kommen! Heiliger Kuss: nein danke!
Und so mag das vom Neuen Testament bezeugte Küssen der frühen Christen uns wenigstens noch diesen Anspruch verdeutlichen: Christus will von uns geliebt werden – mit Haut und Haaren, bitte! Nicht als etwas, was wir uns abringen müssten. Vielmehr als ein Schock-Verliebtsein im Hören seiner Worte, seiner Gleichnisse, im Nachfühlen seines Heilshandelns an seinen Mitmenschen. Schock-Verliebtsein in den, der sich selbst gegeben hat aus Liebe. Schock-verliebte Hingabe.
Und dann den Anspruch an uns heranlassen, dass wir, so wie wir heute hier sind, dieser selben Liebe wert sind, heiliger Küsse wert. Weil wir Jesus das wert waren und weil wir ihm heute ja nirgendwo anders als in Dir und in Dir und in Dir begegnen. Schock-verliebt in das, was in Dir Jesus ist, was in die Gnade ist und Gabe, Dein Charisma, ohne das ich nicht sein kann.
Amen.