Predigt zum Volkstrauertag, 17.11.2024, Matthäuskirche Landau
Pfarrer Dr. Stefan Bauer
Römer 14,7-13
7 Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. 10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. 11 Denn es steht geschrieben: »So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.« 12 So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. 13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Liebe Gemeinde,
es wäre so interessant, sich mal auszutauschen darüber, wie wir alle beten. Ich vermute eine große Bandbreite und Vielfalt. Wir würden uns wahrscheinlich wundern, wie unterschiedlich Menschen beten, die sonntags doch gemeinsam Gottesdienst feiern, die gemeinsam das Vaterunser beten.
Sich gegenseitig davon zu erzählen, wäre wohl eine sehr persönliche Sache. Vielleicht könnte man ja beim Erzählen die konkreten Bitten auslassen, wenn sie zu privat sind? Ich fände das Spannende daran, dass man dann ja über seinen Glauben sprechen würde. Wer ist in meiner Vorstellung der Gott, zu dem ich spreche? Was traue ich ihm zu? Was mute ich ihm manchmal vielleicht auch zu?
Wenn wir über unsere persönliche Art zu beten sprechen würden, dann würde sichtbar werden, wie wir Gott sehen – und es würde sichtbar werden, wie wir uns selbst sehen: Was trauen wir uns eigentlich zu? Und muten wir auch uns manchmal zuviel zu, wo wir eine Sache besser in Gottes Hände legten, in seine Weisheit.
Die Römerbrief-Stelle heute hat mich auch zu diesem Thema geführt: Wie sehe ich mich selbst? Habe ich einen freien Willen? – Es gab darüber eine intensive schriftliche Auseinandersetzung zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam. Luther lehrte, dass wir in Dingen, die Gott und unser Heil betreffen, nichts aus unserem Willen heraus zuwege bringen – es sei der heilige Geist, also reine Gnade, die uns zum Heil bringe. Wir könnten gar nichts dazu tun. Philipp Melanchthon hat das entschärft, aber das wäre ein längeres Thema.
Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
Es wird jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
Das schreibt Paulus. – Vor ein Gericht kommen nur strafmündige Menschen. Und wenn sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen, dann werden sie nach den Maßgaben des Gesetzes und dem richterlichen Ermessen verurteilt.
Ich empfinde es als wohltuend und entlastend, dass Paulus hier auf eine letzte Instanz hinweist. Viele haben damit heute schon ein Problem, zu sagen, dass Gott das letzte Wort hat. Weil der heutige Mensch ja sich selbst als die letzte Instanz seiner Entscheidungsfindung ansieht. Dabei sehe ich hier gar keinen Widerspruch:
Natürlich fälle ich auf meinem Lebensweg meine Entscheidungen selbst in letzter Instanz und in Freiheit. Ich kann Ratschläge annehmen oder die Bibel konsultieren. Ich kann im Gebet Gott um seinen Geist bitten. Aber dann bin ich für meine Entscheidung, für den Kurs, den ich einschlage, selbst vollverantwortlich.
Wer allerdings in allem auf Erden Gott am Werk sieht, als verborgener Wille, der die Sinne der Menschen führt und die Geschicke lenkt, der wird mit der heutigen Auffassung von der Autonomie und Freiheit des Menschen Schwierigkeiten haben.
Also, ich will mich nicht vor meinem Gewissen herausreden, indem ich sage: Gott hat mich diesen Weg geführt. Ich stehe dazu, dass es meine Entscheidung war.
Das schließt ja nicht aus, dass ich Gott dankbar bin für das, was mir im Leben gelingt und zufällt. Das meiste davon ist ja nicht mein Verdienst. Da kommen, wenn etwas gelingt, so viele Faktoren dazu, zusätzlich zu meinem Wollen, dass ich das Gute in meinem Leben auf jeden Fall als Geschenk sehe. Aber für meine Entscheidungen, bin ich zuständig.
Auch Paulus sieht den Menschen als verantwortlich an. Denn wäre Gott der Lenker unserer Taten und Gedanken, aus welchem Grund sollten wir dann noch vor eine letzte Instanz hintreten? Würde dann nicht Gott, als Ursache meiner Taten, sich vor sich selbst, als ewiger Richter, rechtfertigen? – Das wäre doch unlogisch, meine ich.
Außerdem wurde schon zuviel Missbrauch damit getrieben, zu behaupten, dies oder jenes, was ich tue oder was mir widerfährt, sei Gottes Wille – und letztlich stehen doch nur menschliche Interessen dahinter. Ich finde es unbedingt gut und wichtig, dass wir uns klar sind, dass wir in der Zeit, in der wir leben, verantwortlich sind.
Und ich finde es unbedingt ebenso gut und richtig, dass wir uns dann für unser Leben verantworten werden. Wer für sich keine letzte Instanz sieht, das ist ein Mensch, der auch kein Gewissen hat. – Davon gibt es, glaube ich, wenige. Aber die, die es gibt, erzielen leider in der Welt eine überproportionale Schadenswirkung. Uns würden sofort ein paar aktuelle Namen einfallen.
Gott wird über alle das letzte Wort sprechen. Er ist die letzte Instanz für uns: Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.
Das beschreibt ein Leben in der Gewissheit des Glaubens:
Ich treffe meine Entscheidungen selbst.
Aber ich bin in allem tief geborgen.
Und mein Leben läuft auf Gott zu.
Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
Das meint nicht, dass Gott durch den Auferstandenen, diejenigen, die Christus bekennen, rechtleitet auf Erden und die anderen nicht. Etwa nach dem Motto: Je lauter und ekstatischer ich bekenne, desto besser. Und wer nicht an ihn glaubt, ist der Böse. – Das wäre einfach, so durch mein Bekenntnis automatisch auf der Seite der Guten zu sein. Nein, allen bleibt die Verantwortung für ihr Tun. Und alle treten vor den Richterstuhl, hören wir von Paulus. Es gibt keine vorab geretteten Frommen. Die Rechnung kommt ja erst am Schluss.
Aber dennoch macht Jesus für uns einen Unterschied: Diejenigen, die hier von der Auferstehung Jesu wissen, für die steht auch hier auf Erden alles schon unter neuen Vorzeichen. – Wenn Jesus durch den Tod ins ewige Leben ging, dann ändern sich einfach auch vor dem Tod schon die Geschäftsbedingungen.
Es verbindet sich damit die Hoffnung, dass Menschen, die Christus vertrauen, eine wichtige Richtschnur für ihre Entscheidungen gewinnen. Der Tod verliert an Macht. Die Angst bleibt dann nicht mehr Hauptkriterium meiner Entscheidungen. Wenn der Tod und die Flucht vor ihm nicht mehr in alles hineinregieren, dann erweitert das den Radius für meine Entscheidungen. Bis dahin, dass mir sogar etwas wichtiger werden kann als die Sorge um mich selbst.
Ich kann freier an meine Mitwelt denken. Ich muss nicht alles um jeden Preis meiner Lebensverlängerung unterwerfen. Das ist im Grunde die Voraussetzung für Liebe: Von sich selbst und der Rettung der eigenen Haut und der Optimierung der eigenen Lebensumstände absehen können, weil Jesus uns Wichtigeres gezeigt hat:
- Du wirst nicht gut leben, solange es deinem Bruder und deiner Schwester schlecht ergeht.
- Du wirst nur scheinbar gut leben, wenn für dein gutes Leben andere bezahlen müssen.
- Du bist nicht allein, sondern du hast Mitgeschöpfe; und nur gemeinsam entsteht Schönheit und Sinn.
Es ist mir klar, dass es hier an Worten fehlt. Die Auferstehung sprengt menschliche Vernunft. Sie kann nur in je eigenen, persönlichen Begriffen geglaubt werden. Andere Menschen in anderen Religionen haben wieder andere Begriffe dafür.
Aber gemeint ist immer ein Getragensein durch ein tiefes Vertrauen, dass alles aufgehoben ist, dass alles gut endet.
Gerade in diesen Zeiten, in denen die Welt von Kriegen geschüttelt wird, die uns wirklich Angst machen, gerade in Zeiten der ständigen Hiobsbotschaften aus einer leidenden, ächzenden Schöpfung, gerade in Zeiten der Wiederkehr totalitärer Persönlichkeiten an die Macht, gerade in Zeiten, in denen unkontrollierbare Systeme den Lauf der Welt zu bestimmen scheinen – wie soll man gerade in solchen Zeiten noch Hoffnung haben können? – Wenn nicht durch den Einspruch gegen den Tod selbst! … (auf den Christus zeigen!!!!!) Dass da oben einer thront, der überwunden und für uns befreiende Hoffnung zur Welt gebracht hat. Und das alles, weil Gott einer ist, der uns liebt – selbst wenn wir Menschen einander diese Erde zur Hölle machen.
Und dieses Liebeszeichen Gottes lässt mich auch hoffen, wenn ich, mythisch gesprochen, vor dem Richterstuhl bin, dass mich dann Erbarmen erwartet. Weil dieses gute Antlitz Christi dort alles in sein Licht taucht. – auch meine ganze Schuld und mein Versagen.
Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.
Wir werden uns letztinstanzlich verantworten für unser Leben, was wir daraus und aus dem Leben unserer Mitwelt gemacht haben. – Wir entscheiden in Freiheit – aber wir können im Licht der Auferstehungshoffnung und durch den heiligen Geist ganz mutige Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die nicht nur für eine Legislaturperiode reichen, nicht nur für die Zeit bis zum Ruhestandseintritt, nicht nur bis man oben steht auf der Karriereleiter, nicht nur bis zu einem vermeintlichen Endsieg – nein, Entscheidungen, die weit darüber hinausreichen, weil sie Christus einrechnen in ihr Kalkül.
Es wird jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.
Hier ist Paulus für die protestantische Kirche, die Kirche, die sich immer reformiert, besonders wichtig geworden. Denn, wenn Paulus sagt, dass jeder für sich selbst Rechenschaft geben wird, dann heißt das, wir brauchen keine menschlichen Vermittler. Niemand, der das Heil für uns verwaltet. Wir sind alle schon Priester, Männer und Frauen. Alles findet auf Augenhöhe statt. Hierarchie kann es nur als Aufteilung in wichtige Rollen und Funktionen geben – nicht aber als ein Über- und Untereinander, nicht als Machtverhältnis, nicht im Glauben!
Und daraus folgt:
Darum lasst uns nicht mehr einer den anderen richten, sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Was wäre das doch für ein Kulturwandel! Wenn es nicht mehr darum ginge, zu zeigen, wie falsch und verwerflich die Position des Anderen ist, wie unmöglich, so etwas zu behaupten.
Ich bin überzeugt, dass wir miteinander wegkommen müssen von der gegenseitigen Verteufelung, die seit Corona bis in die Familien und Freundeskreise hineinreicht.
Hass und üble Beschimpfung müssen wieder aufhören. Wir müssen früher widersprechen, wenn Menschen in ihrer Würde verletzt werden. Wir müssen laut werden, wenn Menschen wegen ihres Geschlechts, wegen ihres Aussehens, wegen ihrer mangelnden Bildung oder wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden. Denn das – ist der Beginn von Pogromen! Damit wird die Angst geschürt, auf der Diktaturen wachsen!
Was, wenn sich die Kultur des Paulus ausbreitet? Die den Sinn darauf richtet, den Mitmenschen keinen Anstoß oder Ärgernis zu bereiten. – Dann dürfte man nicht mehr nach Umfragen und Mehrheiten gehen, sondern müsste auf alle, gerade auf die Minderheiten, gerade auf die mit der schwächeren Position Rücksicht nehmen.
Es steht uns allen frei, liebe Gemeinde, so oder so zu entscheiden, diesen oder den harten Weg zu nehmen. Ich vertraue auf den Sieg der Sanftheit und meine Hoffnung darauf wird gespeist aus der Auferstehung. Denn nicht Angst soll herrschen, sondern Vertrauen. Vertrauen darauf, dass sich gute, menschliche, christliche Entscheidungen lohnen. Vertrauen darauf, dass meine schlechten Entscheidungen mir vergeben werden in und aus Gottes Liebe!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.