Segens-Konjunktur

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Predigt von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer                
Sonntag Miserikordias Domini 2025, Matthäuskirche Landau

Joh 10,11-16.27-30
Christus spricht:
11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. (…)
27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; 28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. 29 Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. 30 Ich und der Vater sind eins.

Liebe Gemeinde,

„Du siehst mich“. Das Bild des Hirten, der jedes seiner Schafe im Blick hat, ist ein ganz altes Bild für Gott. Die Gewissheit, von Gott gesehen und geliebt zu sein, ist während der Corona-Jahre besonders wichtig geworden. Da fing Ingo Zamperoni an, die Tagesthemen mit dem Wunsch: Bleiben Sie zuversichtlich! abzumoderieren. Als er dazu befragt wurde, sagte er, er dachte, es tut den Menschen gut, wenn sie von außen Mut zugesprochen bekämen.
Eine sehr ähnliche Formel hat da auch der damalige EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm geprägt. Er war auf facebook jeden Morgen mit einer kurzen Betrachtung der biblischen Tageslosung präsent und schloss jede dieser kurzen Andachten mit dem Wunsch: Bleiben Sie behütet!

Nach meiner Beobachtung hat seither das Segnen Hochkonjunktur. Vielleicht erinnern Sie sich an die QR-Codes auf kleinen goldenen Visitenkarten „Ich brauche Segen“. Ich habe noch ein paar mitgebracht und hinten auf den Tisch gelegt. Wenn man den QR-Code einliest, dann bekommt man ein zufällig generiertes Segenswort angezeigt.
Segen Geben ist so schön einfach. Und passt es nicht zu jeder Gelegenheit?

Es wird ja gerade diskutiert, ob die Kirchen sich um andere Inhalte kümmern sollen, sich zu Zeitfragen, zu sozialen Missständen, zu politischen Themen äußern sollen, oder nicht besser bei Seelsorge und Segen bleiben. Hinter dem Segen steht das Vertrauen in Gott, den guten Hirten. Aus dem Buch Sirach haben wir gehört (Sirach 18,13): Die Barmherzigkeit eines Menschen gilt allein seinem Nächsten; aber die Barmherzigkeit des Herrn gilt der ganzen Welt. Er weist zurecht, erzieht und belehrt und führt zurück wie ein Hirte seine Herde.

Wird es nicht tatsächlich immer schwieriger, Menschen oder Nachrichten zu vertrauen? Da wird die tiefe menschliche Sehnsucht nach Begleitung durch und Geborgenheit in Gott anscheinend wichtiger.

Wie so oft hat Johann Sebastian Bach diese Glaubens-Geborgenheit auch im Hirtenbild musikalisch lebendig werden lassen. Er schrieb für den heutigen Sonntag Misericordias Domini die Kantate BWV 104, wie immer zusammengestellt aus biblischen Texten und eigenen:
Du Hirte Israels höre, der du Josef hütest wie Schafe. (…)
Der höchste Hirte sorget vor mich,
Was nützen meine Sorgen?
Es wird ja alle Morgen
Des Hirten Güte neu.
Mein Herz, so fasse dich, Gott ist getreu. (…)
Beglückte Herde, Jesu Schafe,
Die Welt ist euch ein Himmelreich.
Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon. (…)
Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Dem ich mich ganze vertraue, …

Unsere Religion wurzelt in einer alten Nomaden- und Hirtenkultur. Von Abel bis Abraham und den Kindern Israels reicht die Tradition bis zu David. Sie waren alle Hirten. Und Jesus stellte sich in diese Tradition. Er verwendete Bilder aus dem Hirtenleben, um über Gott und über seine Beziehung zu Gott zu sprechen. Er nennt sich selbst den Hirten für die, die sich zu ihm halten, die zu ihm gehören, die ihm folgen.

Schafe brauchen sich keine Gedanken zu machen. Schafe folgen, denn sie vertrauen dem Hirten. Der will, dass sie gute Weide finden. Der wählt die rechte Straße. Der schaut, dass keins verloren geht. Der behütet vor der Gefahr. Stecken und Stab stehen für das mögliche mutige Entgegentreten und Verscheuchen wilder Bestien.

Jesus ist in diesem Ich-bin-Wort aus Johannes 10 der unüberbietbar gute Hirte. Er riskiert und gibt sein Leben für die Schafe. Er kennt sie und die Schafe kennen ihn und er kennt den Vater und Gott kennt ihn. Und er wird zusammenführen, was jetzt noch getrennt ist, in die umfassende Einheit von Hirt und Herde – Vertrauen durch und durch, Transparenz durch und durch, Einigkeit durch und durch, Hingabe durch und durch. Und darin die Gabe des ewigen Lebens, auch für die Schafe. Alles wird eins sein in der Geborgenheit der Hand Gottes und in der Einheit mit Vater und Sohn. Begleitung und Geborgenheit über alles Sichtbare und Zeitliche hinaus.

Liebe Gemeinde, das Hirtenbild macht Sinn, wenn es auf Gottes Welt bezogen ist, wenn es auf Jesus und seine Hingabe bezogen ist. Er ist der Hirte der Seelen, des Glaubens und seiner Verheißungen. (1 Petrus 2,25) Wie viel schwieriger und problematischer aber wird das Bild des Hirten, wenn nun Menschen Hirten anderer Menschen sein sollen!
Vereinzelt wurde der Begriff in der frühen Kirche für Ämter und Aufgaben in den Gemeinden verwendet: Petrus wird von Jesus beauftragt, seine Schafe zu weiden. Im ersten Petrusbrief sind es die Presbyter, die Ältesten, die die Herde weiden, freiwillig und ohne Lohn. (1 Petrus 5) Die Apostelgeschichte beschreibt die Einsetzung von Presbytern zu Episkopoi, zu Aufsehern über die Gemeinde-Herde. Es geht also bei den in den frühen Gemeinden erwähnten Hirtenämtern und -beauftragungen meistens um die Aufgabe der Gemeindeleitung.

Wir wissen, dass die heutige kirchliche Wirklichkeit sich anders darstellt.

  • Auf kathoischer Seite ist das Hirtenamt ein hierarchisches Amt geworden, das den Bischöfen zukommt. Über allen steht der Bischof von Rom, der Papst mit seinem universal gedachten Hirtenamt.

Tatsächlich gibt es ja laufend Gespräche darüber, ob das Papstamt neben der Funktion die oberste Instanz in der katholischen Kirche zu sein, auch eine Funktion für die ganze Christenheit übernehmen könnte, quasi ein ökumenisches Hirtenamt.

  • Auf evangelischer Seite wurde das Hirtenamt von den Presbytern auf die Pfarrerinnen und Pfarrer verlagert. Die Pfarrpersonen als Pastorinnen und Pastoren, Hirtinnen und Hirten ihrer Schäfchen.

Da haben sich die Akzente deutlich verschoben hin zu menschlichen Machtpositionen und Hierarchien und weg von der Verantwortlichkeit der damals in den frühen Gemeinden sogenannten Ältesten. Ich fürchte, die Kirchenorganisationen haben sich sehr weit entfernt von den Anfängen, obwohl wir uns doch der Situation der frühen Gemeinden wieder nähern. Natürlich ging man bis ins frühe 19. Jahrhundert davon aus, dass doch alle Menschen zu einer christlichen Konfession gehören. In dieser Logik mag es eine Herde gegeben haben, die zu weiden war.
Aber schon durch die Industrialisierung hat die Kirche ihren Status als Volkskirche verloren und es wurde wieder -und langsam immer mehr- nötig, dass man wieder missionarisch denkt. Hirtinnen und Hirten bekamen wieder die apostolischen Aufgaben, der Mission nach außen und der Stärkung nach innen. Taufe und Abendmahl. Nach außen, wie nach innen ging es um das Seelenheil.
Mission wird wieder wichtiger, wir merken, dass es wieder mehr auf das Weitererzählen ankommt, auf die Weitergabe in den Familien, auf die Ältesten, die Freiwilligen in den Gemeinden. Es kommt wieder auf die Netzwerke an, auf den alltäglichen Kontakt mit Menschen, auf die täglichen Gespräche am Rand, auf das sichtbare Zeugnis: Ich bin Christin, ich bin Christ.
Auch wenn die mediale Gesellschaft und Öffentlichkeit nach Protagonisten lechzt, nach Hirten und Hirtinnen, die vor den Kameras stehen und über tausend Kanäle am besten weltweit zu hören und zu sehen sind. Auch, wenn das unsere Zeit verlangt, in dieser Art sichtbar und präsent zu sein, denke ich, das Agieren von Hierarchen wird den Glauben nicht fördern.

Kirchentage und Großereignisse des Glaubens in Rom führen vielleicht dazu, dass diejenigen, die sich zu den Kirchen halten, bestätigt finden. Aber ich würde mal vermuten, die Zukunft der Kirche wird davon abhängen, ob der eigentliche Hirte wieder in den Herzen und Seelen landen kann. Der Christus, der eins ist mit dem Vater. Der Hirte, dem ich vertrauen kann. Der, der mich und dich und uns sieht. Wenn es um ihn geht, dann braucht es ja gar nicht mehr um die Kirche gehen. Er ist unser eigentliches Thema.

Amen.