Predigt von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer zum 4. Advent 2024
Lk 1,39-56
39 Maria aber machte sich auf in diesen Tagen und ging eilends in das Gebirge zu einer Stadt in Juda 40 und kam in das Haus des Zacharias und begrüßte Elisabeth. 41 Und es begab sich, als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leibe. Und Elisabeth wurde vom Heiligen Geist erfüllt 42 und rief laut und sprach: Gesegnet bist du unter den Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes! 43 Und wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? 44 Denn siehe, als ich die Stimme deines Grußes hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leibe. 45 Ja, selig ist, die da geglaubt hat! Denn es wird vollendet werden, was ihr gesagt ist von dem Herrn.
46 Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, 47 und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; 48 denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. 49 Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. 50 Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. 51 Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. 52 Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. 53 Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. 54 Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, 55 wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit. 56 Und Maria blieb bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim.
Liebe Gemeinde, wir haben in Gedanken Maria auf dem beschwerlichen Weg durchs Gebirge begleitet. Wir wurden Zeuginnen und Zeugen des Besuchs bei der Kusine Elisabeth. Wir wissen, auch sie ist schwanger und der noch ungeborene Johannes der Täufer in ihrem Leib hüpft vor Freude als er den Gruß Marias hört. Die beiden schwangeren Frauen spüren mehr als wir: Sie spüren, da naht sich der Welt etwas von Gott her, Befreiung, Erlösung. Und das Schicksal der Welt verbindet sich jetzt gerade mit ihrem eigenen Leben und mit dem Leben, das sie in sich tragen. Wie kann man Advent besser ausdrücken als in der Erwartung einer bevorstehenden Geburt? Es wird alles seinen Lauf nehmen nach einer unsichtbaren Regie. Wie bei einer Geburt die Hormone unsichtbar die körperlichen Prozesse steuern, so lässt Gott sein Heil für die Welt ebenso unsichtbar wie unaufhaltsam reifen – durch Mühen und durch Wehen: am Ende wird das Heil geboren! Und das erlebt Maria am eigenen Leib und es bricht aus ihr hervor, dort bei Elisabeth, als ein Gesang, als ihr Gesang. Mit der innigen Wucht eines Psalms lobt sie Gott, dessen Macht eine gerechte Macht ist, die Gerechtigkeit übt und die Falschheit der Welt umstürzt.
Unsere Welt heute ist noch immer in ihrem irrwitzigen und menschenverachtenden Macht-Taumel begriffen. Alles läuft subtiler, versteckter, indirekter ab als zu Marias Zeiten. Damals schlug das römische Imperium immer wieder blutig zu, um seine Interessen zu wahren. Heute wird in sweat shops der Textilindustrie in Pakistan geblutet, auf den Plantagen von Almeria, auf den gigantischen Plastik- und Textilmüllhalden Afrikas und Asiens gelitten, in Minen und Bergwerken der Billiglohnländer. Heute verbrennen die Einen ihre fossilen Brennstoffe – und die anderen gehen unter oder brennen ab. Es gibt sie auch heute, die Ohnmächtigen, die Opfer am Rand, die keiner sieht. Es gibt sie auch in einem reichen Land, wie unserem. Und Weihnachten erzählt davon, dass dort das Heil beginnt, bei denen ohne Macht, bei den Niedrigen. Um der Ohnmächtigen, um der Getretenen willen schafft Gott den Shalom, den umfassenden, den gerechten Frieden.
Am 4. Advent richten wir mit Maria den Blick auf die Niedrigen und spüren mit ihr: Die Gewissheit von Gottes gerechtem Eingreifen, die Gewissheit, dass alles bestehende Unrecht aufgehoben wird. Das ist die utopische, ja, revolutionäre, rebellische Seite des Advents. Und ich staune bei jedem Wieder-Lesen des Magnificat, wie diese junge Maria den klaren Blick auf die Verhältnisse der Welt hat, wie sie das Elend bemerkt, wie sie die Machtspiele durchschaut, den ungebremsten Narzissmus, der Individuen und Völker ebenso zynisch wie beiläufig in den Staub tritt. Maria ist die Tochter ihres Volkes, das von allem Anfang bis heute bedroht und gefährdet ist. Niederlagen, Exil, Zerstörung, Verfolgung, Vertreibung, Versklavung – nichts, was dieses Volk nicht schon bedroht hätte in seiner Existenz. Gott wird die Verhältnisse geraderücken, er wird das Unrecht beenden.
Maria schaut auf die Niedrigen und die Hungrigen. Und sie schließt sich mit ein:
Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Maria selbst gehört zu den Niedrigen. Und als so eine Niedrige ist sie dargestellt in der kleinen Holzskulptur, die ich mitgebracht habe.
Ich finde, sie passt zu diesem trotzigen 4. Advent. Wie komme ich zu dieser Figur? Sie wurde mir vor Jahren geschenkt. Es fällt zuerst die lange Gestalt auf. Langgestreckt und schmal. Der menschliche Körper wird hier künstlerisch verfremdet. Es fehlt eigentlich das Feminine. Die Figur ist zu einer Gestalt geworden, deren Körperlichkeit man nur an den Schultern erkennt – alles andere ist in ein streng fallendes Gewand gehüllt. Hände, nackte Füße und der Kopf, das Gesicht, sind alles, was sich lebendig zeigt. Maria wirkt sonst eher wie eine Kerze, wie eine jener Skulpturen, die über den Portalen gotischer Kathedralen aufgereiht stehen.
Der Heiligenschein zeigt an: Es geht hier um Sakrales, Heiliges. Und das hat seinen Abstand vom Irdischen und Alltäglichen. Das Heilige ist das tremendum et fascinosum: Es erschüttert und fasziniert, weil es uns mit dem Göttlichen, Abgründigen, Ewigen konfrontiert.
An der kleinen, schwarzen, ernsten Madonna, kommt alles bunte dieser Wochen, das Warme und Anheimelnde vorerst zum Stopp. So wirkt diese Maria so ganz anders als gewohnt. Sie ist keine Schutzmantelmadonna, bei der man unterschlüpfen könnte. Sie trägt nicht den blauen Himmelsmantel. Sie trägt kein Kind im Arm oder an der Brust. Sie ist nicht mütterlich zugewandt, sondern ganz in sich gekehrt. Fast gar nicht irdisch, sondern eher enthoben. In einer übernatürlichen Gebetspose in sich ruhend, irgendwie auch tragend wie eine Säule, eine Karyatide, der man schwere Lasten auflegen könnte. Nur der Kopf geht in eine leichte Neigung und fast unmerkliche Linkswendung. Sonst herrscht eine architekturhafte Symmetrie.
Ich vermute, die Figur ist aus Afrika. Sie ist aus schwerem, ebonisiertem Palisanderholz. Missionsware. Gern hat man sogenanntes Kunsthandwerk nach Entwürfen für den europäischen Markt von den Missionsstationen in den Kolonien zum Verkauf angeboten. Ich erinnere mich noch an den kleinen Missions-Mohr, der im Flur des Paulusstift-Krankenhauses stand. Wenn man eine Münze reinsteckte, nickte er mit dem Kopf. Das Kunsthandwerk aus Afrika half, die Arbeit der Missionen zu unterstützen. Und so erzählt die schwarze Maria auch eine Geschichte. In einem alten Buch über die Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel kann man über die Bethel’sche Mission in Tansania Folgendes lesen: „Als das deutsche Reich in dem schwarzen Erdteil festen Fuß gefasst und auch vom schönen Ostafrika Besitz genommen hatte, da hatte der Kaiser gleich darauf hingewiesen, daß nun in den neuen Kolonien auch das Evangelium verkündet werden müsse.“ Viele ehemals deutsche Missionen wurden nach dem 1. Weltkrieg z.B. von den Briten wieder den deutschen Missionsorden zurückgegeben.
Ich vermute, die Figur ist spätestens um 1930 hergestellt worden, eher früher. Die Falten ihres Umhangs fallen noch in der organischen Spannung des Jugendstils. Steht die Maria nicht auch da wie die Blütenknospe einer Lilie oder Calla, kurz davor aufzublühen? – Die Symmetrie spricht aber für die Zeit des Art déco. – Wer gern Bares für Rares schaut, weiß, wovon ich spreche.
Das ernste Gesicht, ganz ohne Lächeln, erinnert mich an Skulpturen und Holzschnitte von Ernst Barlach oder an die Kohlezeichnungen von Käthe Kollwitz.
So steht sie da. Auf ihre Art schön. Ernsthaft, in sich gekehrt. Sie strahlt beides aus, Demut und Eleganz – und eben dieses Fremde, was nicht aus unserer Welt kommt. Das Heilige, das Gott ins Spiel bringt. – Gott, der in karger und wirrer Zeit schon die Wende vorbereitet. Gott, der die Niedrigen sieht und keine und keinen von ihnen aufgibt. Ihnen gilt die Botschaft des 4. Advents, der Lobgesang der Maria.
Amen.