Identität? Identität!

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Predigt von Pfarrer Dr. theol. Stefan Bauer, Matthäuskirche Landau, 22.9.2024

Galater 3,26-29
26 Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. 27 Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. 28 Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. 29 Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben.

Liebe Gemeinde,
ich möchte heute mit einem Gedanenexperiment anfangen: Wenn uns heute jemand fragt, wer wir sind, was antworten wir da zuerst? Wie würden wir jemand Fremdem helfen, uns einzuordnen? Was bist du? Was gebe ich zuerst an? In welcher Reihenfolge kommen welche Merkmale und Identitäten dann hinzu?
Ich lade ein, in Gedanken mal diese Fragen zu beantworten. – PAUSE –

Wir haben das gestern in der Familie auch mal durchgespielt. Als erstes hätten wir gesagt: Ich bin ein Mann/eine Frau. Als zweites hätten wir unser Alter dazugesagt. Das erlaubt eine Zuordnung zu einer bestimmten Generation, zu einem bestimmten Erfahrungshintergrund.
Was an dritter Stelle der uns charakterisierenden Merkmale käme, da wurde es schon kontrovers. Ich hätte gesagt, ich bin Deutscher. Meine Frau sah eher regionale Identitäten. Also sie würde von mir vorher noch sagen: Mein Mann ist Pfälzer. Unser Sohn sah sich an dieser dritten Stelle der Merkmale als Europäer. Er fand, dass die nationale Identität nicht so wichtig sein sollte.
Geschlecht, Alter, staatliche Zugehörigkeit – vielleicht auch als kulturelle Zugehörigkeit gesehen. Was kommt dann, dass ich Vater bin? Und dann mein Beruf und damit zugleich mein Bildungsstand? Anschließend etwa sonstige Interessen?
Sie merken vielleicht, worauf ich hinaus will: Es kam uns in unserem Testdurchlauf nicht in den Sinn zu sagen, ich bin Christ – ich gehöre zu Christus.

Von anderer Seite betrachtet: Wenn wir uns mal ansehen, wie wir heute hier versammelt sind: Welche Gemeinsamkeiten gibt es da? Haben wir irgendetwas miteinander zu tun? Fühlen wir uns zusammengehörig, so unterschiedlich wir sind?
Wenn wir in unseren Tennisverein gehen, dann wissen wir, was wir dort gemeinsam haben.Wir machen miteinander Sport.
Wenn wir in der Süd-Ost-Kantorei singen gehen, dann wissen wir auch, was wir gemeinsam haben. Wir singen.
Sogar, wenn wir zusammen in einem Konzert sitzen, wissen wir – wir alle mögen Bach, oder wir alle mögen Jazz, das, was eben gerade musiziert wird.
Bei uns als Sonntagsgottesdienst-Gemeinde kann man noch sagen – ähnlich wie bei einem Konzert hören und erleben wir etwas. Es gibt auch gemeinsame Elemente beim Miteinander-Beten und -Singen. Aber wir treffen uns nicht regelmäßig zu gemeinsamen Aktivitäten. Und uns verbinden kaum gemeinsame Merkmale. – Oder, vielleicht bleiben sie ja deshalb unsichtbar, weil wir unsere Praxis jede und jeder für sich übt?
Mein Sohn erzählte von seinen Erfahrungen in den USA. Wenn er mit seiner Gastmama in Henderson/Nevada in die kathoische Kirche ging, dann stürzten sich die Leute auf ihn, fragten ihn aus, woher er kommt, was er macht. Als nächstes hätten sie ihn zu einer Charity-Aktivität eingeladen – gebrauchte Kleidung oder Suppe verteilen. Und dann hätte er dazugehört, einer von ihnen.
Ein anderes Beispiel: Es war gerade Besuch aus Ghana in der Pfalz, aus der presbyterianischen Partnerkirche dort. Dort geht es hoch her in den Gottesdiensten – Gesang, Tanz, es ist ein Kommen und Gehen, manche Leute haben weite Wege zurückgelegt. Man bleibt für Stunden zusammen und erlebt einen intensiven Austausch, gemeinsames Essen. Da hat niemand am Sonntag noch was Anderes vor.
Bei uns in Deutschland hat sich das Christsein als Volkskirche ausgeprägt. Das kann einem, von außen betrachtet, seltsam vorkommen.
Vielleicht erklärt das zum Teil die heutigen Mitgliederverluste. Christsein/Christin-sein bei uns bleibt relativ abstrakt und gehört nicht zu den ersten Merkmalen, mit denen wir uns beschreiben würden. Es scheint mehr im Hintergrund mitzulaufen. Direkte Verbindungen mit dem Leben und seinen Aufgaben sind nicht so leicht erkennbar. Außer Gottesdienst feiern kennt man vor der Kirchentür wenig Aktivitäten von uns.

Ich höre daher heute wieder mit Interesse, dass für Paulus in seinem Verständnis von Christsein Unterscheidungsmerkmale in den Hintergrund traten.

Ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus.
Paulus sieht alle, die an Christus glauben, als Gottes Kinder. In Christus werden wir also eine Familie. Da wäre zu fragen, in welchem Verhältnis diese Glaubensfamilie zur biologischen Familie steht? Dass wir Geschwister, Kinder Gottes sind, das ist schon mal ein Merkmal, das darüber hinaus geht, zu sagen, wir sind die, die Sonntags in die Kirche gehen. – Geschwister, Kinder Gottes sein! Was bedeutet das? Wie fühlt sich das an? Es ist eine Art mystisches Sohn-Sein, Tochter-Sein, Geschwister-Sein. Meint es so etwas, wie: Geschwister helfen einander! So verschieden man auch ist, die Familienbande sind da – Blut ist dicker als Wasser! Es muss jedenfalls eine andere Verbindung sein, die unter Gottes-Kindern und christlichen Geschwistern besteht, als zu sonst jedermann, oder?

Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen.
Auch hier spricht Paulus wieder mystisch. Es ist eine Art Einswerdung mit Christus, was durch die Taufe geschieht. Geht es so weit, als würden wir in seine Haut schlüpfen? Bedeutet „Christus angezogen“ haben, die Welt und die Menschen mit seinen Augen zu sehen? Bedeutet es, dass wir ihn immer dabei haben – bei allen Entscheidungen kann er Weisung geben? Paulus meint hier, dass durch die Taufe etwas Tiefgreifendes, etwas Existentielles geschieht. Es ist sakramental, es ist eine Wandlung auf genetischer, auf molekularer Ebene. Wer getauft ist, zieht Christus an wie ein Kleid, das nie gewaschen werden muss, das wir immer tragen, wie eine zweite Haut – verändert, andere geworden.

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier,
hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.
Aktueller, liebe Gemeinde, kann man kaum sprechen. Hier klingen heutige Probleme der Gesellschaft an. Black lifes matter! Me too! Gender pay gap! Akzeptanz von queeren Geschlechteridentitäten auf der einen Seite – und andererseits der Rückgriff auf Völkisches, das Herausstellen des Identitären als Mittel der Abgrenzung.
Diese Freiheit, die Paulus hier beschreibt, war gesellschaftlicher Sprengstoff zu seiner Zeit. Christliche Gemeinden feierten zusammen, tatsächlich wie Familien, oft ja auch in Privathäusern. Das war unkonventionell – ja, eigentlich revolutionär, wenn wir an diese Anerkennung von Sklaven denken. Das säte den Samen der Gleichheit. – Es ist eine der Ursachen, weshalb das christlich-jüdische Denken zur Quelle des Menschenrechtsgedankens geworden ist.

Die Gleichheit aller hängt mit dem Status als Geschwister zusammen. So schreibt Paulus im 1. Korintherbrief: Denn durch einen Geist wurden wir ja alle in einen Leib hineingetauft, ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie; und alle wurden wir getränkt mit einem Geist.

Wir bilden gemeinsam den mystischen Leib Christi auf Erden. Wir haben ihn angezogen.
Eigentlich sollte das erste Merkmal, an das wir denken, sein, dass wir eine ganz besondere Familie sind, dass wir alle diesen einen Leib bilden in der Welt. Wenn wir aber wieder durch diese Kirchentür gehen, dann scheinen wir wieder einfach nur Männer und Frauen zu sein, Leute mit diesem oder jenem Beruf und sozialem Status, die meisten kommen aus demselben deutschen Kulturraum. Offenbar tragen wir draußen wieder andere Etiketten an der Kleidung. Aber müsste unsere Identität in Christus nicht spürbarer sein?
Wir sollten uns jedenfalls nicht unter denjenigen halten, die auf den Unterschieden herumhacken: Der ist Migrant, der ist Deutscher, du bist eine Frau, ich bin ein Mann, dazwischen hat es nichts zu geben, du bist vermögend und du nicht, du bist gebildet und du nicht.
Es müsste uns beunruhigen, dass wir doch so einige Merkmale heute gemeinsam haben. Es gibt hier wenige mit Migrationshintergrund, keine People of Color, es gibt hier niemanden, der sich als schwul, die sich als lesbisch zeigt, niemanden sichtlich Queeres. Wir teilen alle in etwa denselben sozialen Status.
Diese Dinge müssten uns eigentlich beunruhigen. Denn wenn doch alle zum Leib Christi gehören, weshalb sind wir dann hier so „sortenrein“?

Dem Paulus und seinem Glauben zu folgen, das kann nur in eine größere Offenheit münden. So etwas Kleines, wie unser Kirchencafé hilft dazu, uns als Geschwister kennenzulernen. Jedes Interesse aneinander, jedes Nachfragen, Sich-Sorgen um die anderen bringt in Erinnerung, dass wir in Christus getauft sind. – Wenn wir gefragt werden, sollten wir das Merkmal, Christin, Christ zu sein, nicht zuletzt erwähnen müssen. Es darf in unserem Leben sogar die erste Geige spielen es sollte immer mitklingen.

Das Bild von Hildegard von Bingen möchte ich uns dazu heute auf den Weg geben. Hildegards Gedenktag war am 17.9..
Das Bild zeigt die Dreifaltigkeit. Der äußere Ring ist Gott-Schöpfer. Die Figur ist Christus. Die Füllung, die ihn umgibt, ist der Geist. – Wir sind die, die diesen Christus angezogen haben. Wir sind dieser Leib für unsere Zeit und für unser Umfeld.
Christus ist mit Gott verbunden – oben am Kopf sehen wir das. Es sieht für mich aus, wie ein Fötus in einer Plazenta. In der Fruchtblase Gott wartet der Fötus Christus darauf, geboren zu werden. Mit der Geburt kommt er in die Welt und mit ihm durchfließt der Geist, der Christus bisher als Fruchtwasser umgeben und genährt hat, in die Welt.

Ich meine, wenn wir als Gemeinde und Leib Christi wieder durch die Kirchentüren in die Welt gehen, dann kommen wir immer wieder so zur Welt – als Christi Leib, der mit dem Rückenwind des Geistes die Welt verändert.

Und der Friede Gottes, …