Die Weihnachts-DNA

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Predigt von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer am 1. Christfesttag, 25.12.2024

Römer 1,1-7
1 Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, 2 das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, 3 von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, 4 der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten – Jesus Christus, unserm Herrn. 5 Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, den Gehorsam des Glaubens um seines Namens willen aufzurichten unter allen Heiden, 6 zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus. 7 An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde! Ich verstehe es, wenn diese Worte bei Ihnen gerade keine weihnachtlichen Gefühle auslösen. Obwohl ja die Worte „sein Sohn“ und „geboren“ vorkommen. So ein Paulusbrief kommt komplex und spröde rüber. Und an Weihnachten wünschen wir uns Einfachheit und Anschlussfähigkeit.

Das Bild der Krippe ist ganz schlicht und einfach. Sie erzählt eine Geschichte – und Geschichten gehen ohnehin viel besser an uns, als Argumente. Die Zahl der handelnden Personen in der Weihnachtsgeschichte ist überschaubar. Die Beziehungen, die untereinander entstehen, zwischen Hirten und heiliger Familie, zwischen Engeln und Weisen sind nach anfänglichen Irritationen harmonisch und geklärt. Rollen sind klar verteilt. Doch schon, wenn wir fragen, „Warum denn ausgerechnet die Hirten?“, schon, wenn wir fragen, „Was wollen uns die Sterndeuter und ihre Geschenke sagen?“, schon bei diesen einfachen Fragen merken wir, wie die scheinbar überschaubare Szene auf einmal mit universaler Bedeutung aufgeladen wird. – Das macht die Faszination der neutestamentlichen Geburtsgeschichten Jesu aus, dass sie so scheinbar einfach und vom Handlungsablauf überschaubar daherkommen und doch zugleich ausdrücken wollen: Was da geschehen ist in jener Nacht, das hat den Lauf der Welt verändert. Das hat die Geschäftsgrundlage von allem verändert. Ich glaube, diese Dimension des Weihnachtsgeschehens überfordert uns ständig. – Aber wir werden getröstet, weil wir emotional in die Geschichte mitgenommen werden.

Da ist das Gefühl des Ausgeliefertsein gegenüber Entscheidungen der großen Politik. Der Befehl des fernen Kaisers fordert der heiligen Familie viel ab.
Da ist das existentielle Geschehen der Geburt – das Leben von Mutter und Kind in Gottes Hand. Die Sorge und das eigentlich Nichts-Tun-Können Josefs ist greifbar. Wir stellen uns die unbeschreibliche Freude über das neue Leben vor!

Die Weihnachtsgeschichte lädt uns auch ein, emotional in die Lebensverhältnisse der Hirten einzutauchen. Ihre Emotionen werden am intensivsten beschrieben. Matthäus bietet uns noch den Blick auf die Sterndeuter, Männer, die aus einer anderen, höfischen Sphäre kommen. Männer, die Reichtümer bringen. An der Krippe begegnen sich, wenn wir es uns zusammenreimen blue collar und white collar. Alle werden sie bewegt durch die Engel – sie werden verängstigt, sie werden alarmiert, sie werden sensibilisiert, sie werden mobilisiert – sie finden sich schließlich zutiefst gerührt vor dem Neugeborenen in seiner Futterkrippe: Eltern, Weise, Hirten. Und sie alle verlassen diesen Ort und diese Nacht als Andere. Wir sehen also: Es geht um Gefühle, die wir nachvollziehen können.

Aber wir sehen doch auch: Die Geschichte ist gar nicht so einfach, gar nicht so überschaubar, wie sie anmutet. Die Krippenfiguren zeigen zwar ein Idyll. Aber wie es in den Beteiligten aussah, was sie seelisch durchmachten, wie sie ihre Haltung änderten und als Andere zurück-gingen in ihre Welt, das kann man den Krippenfiguren nicht ansehen. Aber wir können es uns vorstellen. Es geht nur an der Oberfläche um eine bewegende Geschichte, unter der Oberfläche aber geht es um Grundstürzendes, um Existentielles, um ein Eingreifen Gottes in den Lauf der Welt!

So könnten wir das Ganze mit Weihnachten jetzt innerlich ablegen – unter der Kategorie „wunderbares Eingreifen Gottes in die Geschichte“. Toll, dass es sowas immer wieder gegeben hat und gibt. Toll, dass Gott seine Schöpfung nicht sich selbst überlässt. Toll, er wird schon wieder eingreifen, wenn es wirklich brenzlig wird … Aber das Ganze, es geht eben doch tiefer. Es erfasst die Menschen. Diejenigen, die mit dem Jesuskind in Berührung kommen, verändern sich: Maria und Josef gehen als andere Menschen aus dieser Nacht. Nicht lange und sie werden zu Flüchtlingen. Ihr Leben wird nie mehr „normal“ sein. Die Hirten werden zu ersten Aposteln und Evangelisten, die in die Dörfer laufen und erzählen, was sie gesehen haben. Die Weisen lernen, welches gewaltige Geheimnis sie hier zu hüten haben, damit es nicht von der Gewalt der Welt sofort wieder vernichtet wird. Kurz, dieses weihnachtliche Eingreifen Gottes betrifft nicht nur einen historischen Moment. Es betrifft nicht nur alle damals daran Beteiligten, die andere Menschen werden.

Könnte also Weihnachten nicht nur eine Geschichte sein, die von einem fernen Wunder erzählt? Könnte also Weihnachten sogar uns heute noch betreffen? Könnte Weihnachten eine Art bleibendes Persönlichkeitsmerkmal sein? Eine Haltung, die durch Jesu Geburt in die Welt gekommen ist? Eine Sinngebung für alle Menschen, die seit damals geboren wurden und von Jesus hörten? – Weihnachten – eine Sinngebung für Paulus? Weihnachten – eine Sinngebung für uns? Genau so sieht es aus, meine ich.

Mir fallen die Worte von Angelus Silesius ein:
Wär’ Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärest ewiglich verloren.“

Gottes Menschwerdung, sein Ankommen im Fleisch menschlicher Existenz ist nicht nur eine Veränderung, die sich in ihm, in Gott vollzieht, Gott wird Mensch … Sondern sie ist auch eine Veränderung alles Existierenden, eine Veränderung der ganzen Schöpfung, eine Veränderung von uns selbst. Ich nehme ein heutiges Bild: An Weihnachten wurde unsere DNA neu geschrieben!
Ich möchte Paulus einmal so lesen. Dass er uns in seinen Briefen erklären will, was das Weihnachts-Gen in und mit uns macht. Paulus selbst erklärt das sonst auch gern am Bild der Taufe. Sie ist ein bleibendes Merkmal, eine unlöschbare Veränderung von uns selbst, character indelebilis, Neugeburt.
Ich lese den Anfang des Römerbriefs also nicht als Aussage über Paulus – seine Berufung, seine Begabung, seine Beauftragung. Ich verstehe die Worte als Aussage über uns alle, unsere Berufung, unsere Begabung, unsere Beauftragung durch den Glauben an Christus.
Denn Paulus bezeichnet hier nicht nur sich selbst als berufen, sondern auch die Christinnen und Christen in Rom: als berufen durch Jesus Christus, als berufene Heilige.
Alle sind Christus verbunden, eins geworden mit ihm wie ein Sklave, der den Willen des Herrn umsetzt, schreibt Paulus in antiken Bildern.
Wir treffen hier auf eine evangelische Grundüberzeugung: Es gibt keine Berufeneren. Es gibt nur Berufene! Alle sind berufen!
Paulus, so teilt er im Brief mit, wurde zum Apostel berufen, weil er die Gabe des Predigens, des Verkündigens hat. Was ist deine Gabe und deine Berufung?

Beides kommt zusammen: 1. – dass es die Gottesgabe in uns gibt. Was ist deine Gabe? Vielleicht die Gabe der Musik? Vielleicht die Gabe der Kritik? Vielleicht die Gabe des Tröstens? Jede und jeder hat seine und ihre Begabungen.
Und dann kommt 2. ein Auftrag hinzu: Paulus war von der Gemeinde in Jerusalem ausgesondert, ausgewählt worden, in die Welt zu ziehen und den Heiden zu predigen, die Botschaft dorthin zu tragen, wo sie noch nicht war.
Was bedeutet das für uns alle, Begabung und Beauftragung?
Die christliche Erbgutveränderung weist uns aneinander, macht uns zur Gemeinde, zur Gemeinschaft. Und in der Gemeinschaft findet jede und jeder ihre und seine Auf-gabe. In der Gemeinschaft zeigt sich die Gabe, weil Gottes Gaben nur Gaben in Bezug auf unsere Nächsten sind. Unsere Begabung ist nicht für uns, kein Privateigen-tum, unsere Gaben beziehen sich auf die Gemeinschaft und dort sollen sie sich entfalten und zeigen. Und die Gemeinschaft erkennt die Gaben und sondert aus und beauftragt.
Das wird in Zukunft in den Gemeinden wieder sichtbarer werden, denn wenn das Hauptamt weniger wird, extrem gesagt, wenn die Pfarrpersonen rar werden, wird die Berufung aller wieder sichtbarer. Das Pfarramt ist eine Beauftragung, die historisch gewachsen ist. Aber die Begabung aller Christen – das ist der bleibende Leib Christi in der Welt. Und die Gemeinde ist befugt, neue Beauftragungen auszusprechen und sich ganz anders zu organisieren.

Liebe Gemeinde, Paulus beschreibt hier in drei langen Sätzen, was Christsein ausmacht. Und Weihnachten nimmt in dieser Beschreibung eine Schlüsselstellung ein. An Weihnachten erfüllt sich die Prophetie, dass der verheißene Heiland kommt: Geboren aus dem Geschlecht Davids, schreibt Paulus, nach dem Fleisch. Das kleine, schwache Neugeborene in der Krippe ist, so Paulus, nach dem Fleisch ein Mensch geboren, nach dem Geist aber Gottes Sohn – und, Paulus schreibt, dieser Geist heiligt. So haben wir also mit Weihnachten eine doppelte Verwandlung: das Eingehen Gottes in einen Menschen und dadurch zugleich die Verwandlung, die Heiligung aller Menschen im Glauben. Neue DNA! Neue Menschen – durch Weihnachten!

Es ist mehr als nur eine Identität, liebe Gemeinde, es ist mehr als nur ein neuer Name, den man, wie früher üblich, nach der Taufe bekam. Es geht tiefer. – Weihnachten verwandelt – die Hirten, die Weisen, Maria und Josef und alle, die ihnen allen künftig begegnen werden.
Und was ändert das jetzt? – Es ändert alles! Gott stellt uns als Begabte in die Gemeinschaft. Bahn frei für Berufungen und Beauftragungen! Denn wir tragen die Weihnachts- und Tauf-DNA. Und sie hört nicht auf, die Welt zu durchwirken mit Liebe.

Paulus schrieb es damals an alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom. Und wir sagen es uns heute, uns Geliebten Gottes und uns berufenen Heiligen: Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Das ist die Weihnachts-DNA: Gnade als Gabe – und Friede als Auftrag. Gnade und Friede sei mit uns – durch ihn!

Amen.