Zehn am Rockzipfel

image_pdfPDF herunterladenimage_printText drucken

Predigt über Sacharja 8,20-23 von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer, 7.8.2024

Sacharja 8,20-23
20 So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, 21 und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. 22 So werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN Zebaoth in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen. 23 So spricht der HERR Zebaoth: Zu jener Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Völker einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.

Liebe Geschwister,
das Judentum missioniert nicht. Jüdische Mütter bringen Kinder zur Welt und erziehen sie im jüdischen Glauben. – Früher war das in christlichen Familien im Prinzip auch so. Aber im Christentum gehört ja von alters her noch etwas Anderes hinzu. Man wird zwar hineingeboren in eine christliche Familie – aber dann gibt es ja noch die Taufe. Und die ist heute unverbindlich. Manche Eltern lassen ihr kleines Kind schon taufen. Andere meinen, es wäre besser, wenn die Kinder schon groß sind und wünschen die Taufe dann zum Schuleintritt oder zur Konfirmation.
Wie auch immer – die Konfirmation ist noch viel mehr eine freiwillige Sache heute. Eltern oder Großeltern bestehen nicht mehr darauf. Es wird oft den Jugendlichen selbst überlassen, ob sie in die Konfirmandenstunde gehen wollen.
Da sieht man schon, es ist heute mehr und mehr ein bewusster Schritt, ob man Christ oder Christin sein will oder nicht.

Das Judentum funktioniert an dieser Stelle anders. Sicher kann ich auch als Jüdin oder Jude mich dafür entscheiden, meine Religion nicht auszuüben. Aber von außen betrachtet, ist das Jüdischsein eben nicht die Frage einer Wahl und das war es auch nie. Israel hat sich nicht seinen Gott gewählt, sondern Gott hat sich Israel erwählt. Wobei Auserwähltsein nicht nur Freude sein muss, sondern auch Last sein kann. Das hat Israel oft erlebt.
Auch wenn also das Judentum nicht missioniert, so ist es aber andererseits nicht der Meinung, dass sein Glaube mit den anderen Völkern nichts zu tun hätte. Es kommt ein Tag, so schrieben die späten Propheten, an dem wird alle Welt erkennen, dass Gott der Herr ist. An diesem Tag werden sich alle zu Jahwe wenden und er wird der Gott aller Menschen sein.
Aus dem Geist dieses Gedankens der Wallfahrt der Völker zum Zionsberg nach Jerusalem wurden Psalmen verfasst und aus diesem Geist sind auch die Verse bei Sacharja. Der Prophet sagt voraus, dass Bewegung in die Welt kommen wird, dass sich die Verhältnisse grundlegend ändern werden. Die Bewohner der Metropolen werden es einander erzählen: „Dort ist ein gerechter Gott, der nicht nur exklusiv sein auserwähltes Volk, sondern uns alle liebt. – Seine ganze weite, wunderschöne Schöpfung und alle Menschenkinder liebt dieser Gott der Juden!“
Und dann, so Sacharja, werden die Menschen aus Nah und Fern zu den Jüdinnen und Juden sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.

Im Buch Sacharja findet sich jetzt das schöne Bild, dass jeweils zehn Männer aus den Völkern der Welt den Rockzipfel eines jüdischen Mannes anfassen werden – sie werden ihm und seinem Weg folgen.
Fromme Juden tragen bis heute vier solcher Zipfel, Zizijot, an ihrer Kleidung. Sie erinnern daran und zeigen öffentlich, dass hier ein Jude den 613 Geboten folgt, die zum Bund mit Gott gehören.
Zehn am Rockzipfel. Zehn ist die Symbolzahl für unendlich – wir müssen also nicht nachrechnen, ob alle Menschen an die Rockzipfel jüdischer Männer passen werden – es sind alle gemeint!

Das Bild von den Zehn an einem Rockzipfel möchte ich in verschiedenen Richtungen deuten:

Die erste Bedeutung, die ich für uns heute sehe, ist, dass wir im Grunde als Christentum dem Judentum folgen. Wir hängen am Rockzipfel des israelitischen Glaubens, weil es auch Jesu Glaube war. Jesus war ein frommer Jude und er hat seinen Auftrag zuerst unter den zwölf Stämmen Israels gesehen – deshalb hatte er sich ja zwölf besondere Jünger berufen. Sie sollten symbolisch für das Volk Israel stehen. Jesus lebte mit den Geboten, mit den Worten der Propheten, mit den jüdischen Bräuchen und Traditionen und Festen. Er diskutierte vieol über seinen Glauben mit anderen frommen jüdischen Menschen, überwiegend Männern. – Jesus ist ohne seine jüdische Herkunft gar nicht denkbar – auch wenn er für uns noch eine weitergehende Bedeutung hat. Aber, dass seine Botschaft auch für die Heidenwelt gelten sollte und wie dann genau, das hat sich erst mit der Zeit ergeben und da hat Paulus und auch Petrus und die anderen Apostelinnen und Apostel mitgewirkt.

Zweitens – da entschließen sich zehn einem zu folgen. Was bedeutet das für den, an dem die zehn hängen? Am Sonntag haben wir auf der Wollmesheimer Höhe Vikar Kölsch verabschiedet. Und da haben wir das mal nachgestellt. Es ging wirklich, vor allem, weil Vikar Kölsch einen Talar trug – da konnten sich zehn Leute dran festhalten. Aber er war doch sehr eingekreist und kobnnte sich kaum mehr von der Stelle rühren.
Mütter mit vielen Kindern kennen das, wie es ist, wenn sie einem am Rockzipfel hängen. – Aber dann kommt auch die Zeit, wo die Kinder unsere Hilfe werden und unsere Stütze.

Und drittens denke ich an die Ausstrahlung, die die Jüdinnen und Juden haben, dass die Völker ihnen alle folgen werden.
Mir gefällt diese dritte Deutung am besten. Ich frage mich, wie das wäre, wenn an jedem, der sonntags in die Kirche kommt, bis zum nächsten Gottesdienst zehn weitere hängen? Wenn wir alle die Freude an unserem Glauben so ausstrahlen, dass andere einfach mitmachen wollen? Und an den zehn, die nächsten Sonntag alle mitbringen, hängen dann am übernächsten Sonntag wieder zehn Begeisterte – das heißt, jeder und jede in einem Gottesdienst könnte in 14 Tagen 110 Leute mitbringen, die sich an den Rockzipfeln der anderen festhalten, weil sie begeistert sind.

Ich weiß, das ist eine überwältigende Vorstellung, die uns utopisch vorkommt – aber ich habe das Bild ja nicht erfunden, sondern Sacharja. Vielleicht ist es ja trotzdem einen Gedanken wert?
Ich meine, solange nicht jede christliche Mutter ihr Kind selbstverständlich ihren Glauben lehrt, müssen wir uns ja etwas anderes ausdenken.
Und da wäre es schon ein gutes Ziel, so begeistert Christin und Christ zu sein, dass der Funke auf zehn andere überspringt. Vielleicht sind es am Ende nur zehn, die wir in unserer Lebenszeit an den Rockzipfel des Glaubens führen. Das wäre ja auch schon was.

Und der Friede Gottes …