Predigt von Pfr. Dr. theol. Stefan Bauer, Matthäuskirche Landau, 18.08.2024
Lukas 13,10-17
10 Jesus lehrte in einer Synagoge am Sabbat. 11 Und siehe, eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr aufrichten. 12 Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit! 13 Und legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott. 14 Da antwortete der Vorsteher der Synagoge, denn er war unwillig, dass Jesus am Sabbat heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten soll; an denen kommt und lasst euch heilen, aber nicht am Sabbattag. 15 Da antwortete ihm der Herr und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel von der Krippe los und führt ihn zur Tränke? 16 Musste dann nicht diese, die doch eine Tochter Abrahams ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden? 17 Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.
Liebe Gemeinde,
wir wissen, Lukas war an jenem Sabbat in der Synagoge nicht dabei. Er war, so sieht ihn heute die Wissenschaft, ein Jude der Generation nach Jesus, der mit den Schriften und dem Kultus vertraut war, ein früher Christ. Er brachte eine städtische Sicht der Dinge mit, das merkt man daran, wie wichtig ihm das Thema Reichtum und Armut ist. Er kennt sich in Griechenland gut aus – vielleicht lebte er in einer griechischen Stadt oder im syrischen An-tiochia. Deshalb hat er auch so einen weiten Horizont und diese umfassende Sicht auf die ganze damals bekannte Welt. Aus seiner schreibgewohnten Feder stammt nicht nur das Lukasevangelium, sondern auch seine Fort-setzung in der Apostelgeschichte. In seinen Büchern ist der Weg das zentrale stilistische Mittel. Die Botschaft läuft – immer weiter.
Lukas war also selbst nicht dabei damals mit Jesus in der Synagoge. Aber er beschreibt uns unvergleichlich schön die Atmosphäre um Jesus. Es ist nicht nur Charisma – nicht nur die Gabe der Heilung, die Jesus auszeichnet. Dass er direkt aus Gottes Lebenskraft schöpft. Nein, es ist nicht nur das. Wir sehen beim Hören vor unseren Augen eine ganze Aura, die Jesus um sich her schafft. Als wären Raum und Zeit nur auf ihn bezogen.
Denn selten sind in einer Szene so alle Jesus zugeschriebenen Eigenschaften gleichzeitig sichtbar. Ich gehe sie mal in Gedanken durch:
Jesus ist der Rabbi, der Lehrer, der am Sabbat in der Synagoge die Schrift auslegt. Damit sind Zeit und Raum gesetzt. Er steht in der Mitte an der Torahrolle. Ale anderen um ihn herum.
Der allwissende Erzähler verrät uns Lesenden, da ist eine Frau unter den Menschen im Raum. Und sie ist seit 18 Jahren krank. Sie leide unter einem Geist, der ihren Körper so verkrümmt, dass sie sich nicht mehr aufrichten kann. Das Problem, die Aufgabe ist also gestellt und man ist jetzt gespannt, welche Lösung alles findet.
Da kommt nun eine weitere Eigenschaft Jesu zum Zug: Jesus sieht so etwas, und er schaut nicht darüber hinweg. Obwohl sich eine Frau unter den anderen Frauen aufhält, etwas mehr am Rand des Geschehens und getrennt von den Männern, trotzdem sieht Jesus diese Frau und ihr Problem.
Jesus achtet also auf alles, was sich in seiner Umgebung abspielt. Und er ist besonders sensibel für das Leid, das Menschen plagt.
Die dritte Eigenschaft Jesu ist, dass der schriftgelehrte Rabbi und der aufmerksame Zeitgenosse das entdeckte Problem zum Thema macht. Er handelt nichts am Rande ab, so beiläufig. Er übergeht nichts. Er ruft die Frau zu sich, in die Mitte des Geschehens.
Viertens erleben wir dann Jesus als Heiler und Arzt. Wir können nicht genau sagen, ob Sprechen und Handeln gleichzeitig geschehen oder nacheinander. Jesus heilt durch seine Worte in Verbindung mit seinem Tun.
Er spricht es aus: Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit – und noch im selben Moment oder gleichzeitig legt er ihr die Hände auf – unter aller Augen!
Und durch Wort und Tat Jesu geschieht in diesem Augenblick die Heilung der Frau. – Und diese Heilung ist ein Sich-Aufrichten. – Im übertragenen Sinn könnte man sagen: Die Frau wird wieder sichtbar, sie kann ihr Leben wieder in die Hand nehmen, sie kann jetzt den anderen wieder in die Augen sehen, auf Augenhöhe. –
Jesus hat den Geist besiegt, der sie gequält hatte. Er hat sie befreit, geheilt unter den Augen der ganzen Gemeinde.
Doch kaum ist das geschehen, entwickelt sich die Szene wieder weiter. Von der Situation des Lehrens und Heilens entwickelt sie sich zum Streit, zur Kontroverse.
Denn wir erfahren vom Vorsteher der Synagoge. Er meint, das geht so alles nicht: „Schließlich muss man Regeln einhalten – es kann doch nicht einfach jeder machen, was er will, am heiligen Sabbat – da müssen schließlich ganz besonders die Gebote beachtet werden.“
Ich kann das so gut nachvollziehen! Sabbat für Sabbat sorgt der Vorsteher für einen geregelten Ablauf. Die Leute sollen erbaut und gestärkt aus der Synagoge gehen. Sie sollen sich vergewissern, dass es in all dem Chaos des Alltags und der Weltläufe, Dinge gibt, die ewig bestehen. – So versteht der Synagogenvorsteher die Feier der Ge-meinde am Sabbat. Sie soll etwas Zuverlässiges sein im Auf und Ab der Woche.
Und so erhebt er Einspruch und beschwert sich über Jesus. Denn Heilen ist eine Tätigkeit – und schließlich sollen am Sabbat alle Tätigkeiten ruhen. Zugunsten der Andacht, der Feier und des Hörens auf Gottes Wort.
Jesus stellt sich als Störenfried heraus. Er hat sich angreifbar gemacht. – Vielleicht schwingt ja auch ein wenig Neid mit und der Vorsteher gönnt Jesus diesen Auftritt nicht. – Oder, wer weiß, Heiler gab es damals viele. Aber es waren auch immer mal wieder Scharlatane darunter. Vielleicht wollte dieser Hirte seine Schafe beschützen.
An sechs tagen will der Vorsteher für seine Schäfchen Heilungen in der Synagoge zulassen – aber nicht am Sabbat!
Wie geht Jesus mit diesem Angriff um? – Nein, gar nicht sanft! Nicht so, wie er sich gegenüber der kranken Frau gegeben hatte. Jesus bringt kein Verständnis auf für die-sen Vorsteher und seine altbackenen Ansichten. Wir erleben also wieder einen neuen Jesus – den, der furchtlos widersteht, den, der widerspricht.
Ich frage nochmal: Was hat denn der Vorsteher Schlimmes gewollt? Er wollte doch nur, dass alles geregelt zugeht – so, wie es immer war, soll es auch bleiben.
Doch Jesus legt den Finger in die Wunde. – Denn hätte Jesus so gedacht, dann wäre die Frau in ihrem Elend geblieben. Denn Jesus wäre weitergezogen – die Chance wäre vorbei gewesen. – Mit anderen Worten, der Vorsteher hatte überhaupt nicht begriffen, was sich da vor seinen Augen abgespielt hatte. Er hat vor lauter Wichtigtuerei und Gesetzlichkeit den Blick verloren für das menschlich Gebotene.
Der Jesus der Zivilcourage geht aber an dieser Stelle keine Kompromisse ein. Wenn es um Menschen und um Lebenschancen geht, dann gelten keine ewigen Gesetze. Vor den wirklichen Notwendigkeiten müssen äußere Regeln zurücktreten.
Denn der Vorsteher meint, er spreche als Bevollmächtigter Gottes. – Jesus weiß es aber besser: Jesus hat Gottes Vollmacht zu heilen und zu lehren und Zeichen zu setzen! Das macht Jesus hier unmissverständlich klar: Das Leben geht vor! Und er stellt die Verbindung zum Leben wieder her, er heilt. – Nicht etwa um etwas zu beweisen oder um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er heilt um der Frau neuens Leben zu schenken.
Und wer seinem Vieh, den Ochsen die elementaren Bedürfnisse zugesteht, sie aber Menschen verweigern will, der ist und bleibt ein Heuchler! – In uns klingen die klaren Jesusworte: Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat!
Das, liebe Gemeinde, ist immer die Stelle, an der die Autoritäten nicht mehr mitspielen. Wenn Jesus sich so verhält, ganz klare Grenzlinien zieht, das, was dem Leben dient, im Namen des lebendigen Gottes zu tun – wie unpassend es auch gerade scheinen mag. – Dieses Verhalten Jesu, diese klare Parteinahme für die Menschen und für das Leben – diese lebendige Unruhe und umstürzlerische Freiheit wollte man dann schließlich mit Jesu Ermordung beseitigen. – Diesen Unruhegeist, der die heilige Ordnung stört. Dem wusste man sich schließlich nicht mehr anders Herr zu werden, als ihn umzubringen.
Liebe Gemeinde, ich möchte den Text gern in unsere Zeit holen. Und deshalb frage ich jetzt mal ganz direkt. Wie blass gegenüber der Lebendigkeit dieses Lukastextes sind dogmatische Formeln, wie: „Jesus ist für unsere Sünden gestorben! Jesus hat unsere Schuld ans Kreuz getragen!“ – Jesus hätte das nicht gewollt, dass man aus ihm jetzt den Überkönig macht, der angebetet werden muss. Jesus hätte gewollt, dass der Lebensfunken, der uns aus den Zeilen des Lukas entgegenspringt, dass wir diesen Le-bensgeist aufnehmen und weitertragen.
Lukas schildert uns sehr deutlich, was es mit Jesus auf sich hatte. Er lehrte und heilte, er setzte sich für die am Rand, für die Abgehängten und Chancenlosen, für die Geplagten ein, er kritisierte schonungslos Scheinheiligkeit und Heuchelei.
Wir wissen, warum Jesus sterben musste. Hier steht es schwarz auf weiß: „Und als er das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. – Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.“
Es geht selten gut aus, wenn man sich für die Unten einsetzt und die Oben beschämt.
Aber die Jesus-Geschichte ist ja da nicht stehengeblieben. Gott hat seinen unschuldig ermordeten Sohn nicht am Kreuz und im Tod gelassen. – Und das begründet eine irre Hoffnung: Gott hat alles gut ausgehen lassen und wird auch künftig alles gut ausgehen lassen. Sogar unser Scheitern und unsere Unbeholfenheit.
Gott fügt zusammen, was menschliche Hybris an Leben zerstört. Denn aus Gott fließt das Leben. Gott verhilft dem Leben zum Sieg – ganz in dem Sinne, wie Jesus lehrte und heilte und für das Leben stritt. Ohne Furcht, in Parteinahme für die Geplagten und im Einklang mit der Quelle des Lebens.
Dazu will er auch uns inspirieren, dorthin will er auch uns locken:
Dass wir die Geschichten vom Leben weitergeben, als wären wir die Lehrerinnen und Lehrer.
Dass wir, wie er es tat, die Geplagten nicht übersehen.
Dass wir heilsam wirken für die Menschen um uns und die ganze Schöpfung.
Und dass wir uns mit ihm mutig auf die Seite des Lebens stellen, wenn behauptet wird, dass angeblich Opfer gebracht werden müssen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in diesem Christus Jesus. Amen.